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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Zwischenspiel

Die Geschichte, die an meiner Bettkante saß, blickte mich fragend an.

„Die Erinnerung an die Fragen ist nie wieder zurückgekommen. Ich weiß bis heute nicht, was an diesem Tag geschehen ist.“

„Ich weiß es auch nicht.“, antwortete ich.

Es war die Wahrheit.  Ich hatte die Geschichte geschrieben. Sie war meine Erfindung.  Aber die Fragen hatte sich das Fräulein „So-La-La“ in den Nächten ausgedacht, in denen mein Schreibtisch verwaist blieb.
Ich kannte sie nicht. Ich habe sie nie danach gefragt. Es ist ein Teil der Geschichte, den ich nicht aufschreiben wollte.
Gleiches galt für das Rezept des Mundtotmachers. Es wäre möglich gewesen, es für die Nachwelt festzuhalten.  Die  Großmutter hatte es mir anvertraut. Als ich es in die Tastatur tippte, fand ich es falsch. Ich habe die Zeilen wieder gelöscht.  Ich wollte der Welt kein Rezept in die Hände spielen, das freche Zungen mundtot machte.  Zu groß erschien mir das Risiko, dass es die Könige, Präsidenten und Generäle für ihre Zwecke missbrauchten.   

„Schade.“, bedauerte die Geschichte meine Entscheidung.
„Dann scheint es wie die Fragen für immer verloren.“
Wir schwiegen uns an. 

Keiner wagte es, den Gedanken aussprechen. Oma Rosa konnte das Geheimnis nicht lüften. Ihre Stimme war für immer verstummt.

Ich fühlte, wie ich langsam müde wurde. Es fiel mir schwer, die Augen offenzuhalten.

„Vielleicht ist das beste,  dass die Fragen aus der Welt verschwunden sind.“, unterbrach die Geschichte ihr Schweigen, als wollte sie verhindern, dass ich einschlief.

„Niemand sollte die Macht besitzen, andere zum Schweigen zu bringen.“, sagte sie.

Sie griff nach einer Zeichnung aus der Mappe. Als ich ihre Stimme im Kopf hörte, war ich wieder hellwach. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken.

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