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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

„Das einzige Herz, das sich mit anderen teilen lässt, ist dein eigenes.“

Das Fräulein „So-La-La“ starrte sie entgeistert an.

„Wie soll das funktionieren?“

Die Großmutter blickte zum Fenster hinaus.

„Das ist kinderleicht.“, antwortete sie.
„Alles hängt von der richtigen  Reihenfolge ab.“

Nach einigen Zügen an ihrer Zigarre wandte sich wieder ihrer Enkelin zu. Ihr Blick schweifte zur Decke hoch, als würde sie zwischen dem feinen Nebel, der sich durch das Zimmer zog, in eine fremde Welt blicken.

Mit geschlossenen Augen müsste  sie auf dem Rücken liegen, bläute sie dem Fräulein „So-La-La“ ein.
Als nächstes  sollte sie ihre  Lieblingspuppe  mit dem linken Arm  fest gegen ihre Brust drücken.   Dabei durfte sie nichts reden und an nichts denken. Stumm wie bei der Andacht in der Kirche müsste sie sein. Wenn sie die Luft anhielt und langsam bis zehn zählte, würde der Funken überspringen. Wenn der Mond eine Wolke vor sich schob, die Nacht pechschwarz war  und die Reihenfolge stimmte.

Es ist der beste Zauber, um sein Herz mit einem anderen Wesen zu teilen.“,  behauptete sie.

Im selben Moment  entgleisten ihre Gesichtszüge.  Die Mutter tauchte im Türrahmen auf.  Ihr Geduldsfaden stand kurz vor der Explosion. Unter wildem Geschimpfe polterte sie gegen die Großmutter los.  
Es befände sich mit den Wasserköpfen bereits genug Unglück im Haus, verschaffte sie ihrem Unmut lautstark Ausdruck.
 
„Für Hokuspokus, der dem Mädchen den Schlaf raubt, ist kein Platz mehr.“, donnerte sie.   

Sogleich begann sie, die Puppen einzusammeln und in der alten Kiste zu verstauen.

„Es wird Zeit, dem Unsinn ein Ende zu machen.“, brüllte sie.

Oma Rosa rollte mit den Augen. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, die Vorhaltungen  der Mutter zu entkräften. Nichts dergleichen passierte. Seelenruhig dämpfte sie den Zigarrenstumpen aus. Mit einem knappen Gruß räumte sie das Feld.  

Im Türrahmen warf sie noch eine Kusshand.  Dann enteilte sie die Treppe hinunter.  Es gab nichts mehr zu tun für sie. Alles Weitere würde sich von selbst ergeben.  

In dieser Nacht drückte das Fräulein „So-La-La“  lange  kein Auge zu. 

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