
Von allen Geschichten, die erzählt werden, ist die Geschichte der Zeit die aller seltsamste. Sie verstreicht in Sekunden, Minuten und Stunden. In Tagen, Wochen und Jahren. Sie vergeht in den Jahreszeiten, Kalenderblättern und Küchenuhren. In den Zeitungen, Büchern und Geschichten. Aber am allermeisten vergeht die Zeit in den Gesichtern der Menschen.
Sie muss uralt sein, weil sie seit dem Anfang aller Tage existiert. Merkwürdigerweise wird ihr Alter erst dann sichtbar, wenn sie vergangen ist. Aus der Entfernung von Jahrhunderten ist sie ein altersschwacher Greis, der in verstaubten Büchern und alten Gemäuern haust. Aber mit jedem Jahr, das die Zeit näher an die Gegenwart heranrückt, wirkt sie bunter und lebendiger. Ihre Gestalt wird kräftiger, das Stimmengewirr klarer und die Garderobe, die sie trägt, vertrauter. Auf Augenhöhe sind alle Altersplagen wie fortgeblasen. Ihr Gehabe gleicht wieder dem Überschwang eines kraftstrotzenden Jünglings. Und ihre Zuversicht wird unendlich.
Die Zeit stellt viele Moden und Geschmäcker zur Schau. Geduldig erträgt sie jedes Kleid, das man ihr überstreift. In einem Zeitalter marschiert sie in feldbraunen Uniformen und eisernen Helmen auf den Köpfen. In einem anderen hüpft sie in grellen Kostümen und langen Haaren durch die Straßen. Nichts an ihr ist von Dauer. Was eben noch als der letzte Schrei gilt, landet plötzlich als nutzlos gewordener Trödel in den Schubladen.
Manchmal finden sich ihre Hinterlassenschaften in den Vitrinen der Museen. Dann schleichen die Menschen mit geduckten Köpfen an den alten Knochen und Scherben vorbei und erschaudern vor den scharfen Zähnen des Jägers, der auch ihnen im Nacken sitzt.
Über ihren Charakter gehen die Meinungen stark auseinander. Die einen schimpfen ihn wankelmütig und leichtfertig. Die anderen loben seine Stärke und Gerechtigkeit. Am heftigsten tobt der Streit über die Geschwindigkeit der Zeit. Während die einen ihr Schneckentempo beklagen, rast sie den anderen in wilder Fahrt davon.
Über die Zeit wurden viele dicke Bücher verfasst. Aber die beste Beschreibung stammt von meiner Großmutter. <Die Zeit ist der dünne Faden, aus dem alle Dinge gewebt werden.> , sagte sie. <Es spielt keine Rolle, was etwas ist. Oder was es behauptet zu sein. Am Schluss läuft alles wieder zu dem dünnen Faden auseinander, der es immer gewesen ist.>
Als Kind gab es für mich keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Meine Großmutter erschien mir beinahe so alt wie die Zeit zu sein. Denn niemand konnte sich an eine Welt ohne sie erinnern. Die letzten Jahre ihres Lebens sah ich sie oft auf einem kleinen Schemel vor ihrem Webstuhl sitzen, wo sie an einem dünnen Faden zwischen ihren Fingern zog.
Vielleicht rührt aus den gemeinsamen Stunden mit ihr meine Überzeugung, dass sich das Getriebe der Welt in Dingen erklärt, die auf den ersten Blick klein und unbedeutend wirken. Wie in dem Faden, den meine Großmutter in ihrem Webstuhl spannte.