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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Mit klopfendem Herzen blickte sie  zum Krankenbett hoch. In ihrem weißen Krankenhauskleid wirkte Oma Rosa wie ein blasses Gespenst. Von ihrer stattlichen  Pracht war nichts mehr übrig. 

Innerhalb weniger Tage hatte der Husten die Hälfte ihrer Körperfülle aufgezehrt.  

Ihr Gesicht war kreidebleich. Die schlaffe Haut hing von den eingefallenen Wangen wie die zerfetzten Segel eines alten Schiffes. Die rote Mähne auf dem Kopf hatte sich in ein stumpfes Grau verfärbt.
Zögerlich näherte sich das Fräulein „So-La-La“ den ausgestreckten Armen ihrer Großmutter. Mit den unzähligen Drähten, die an ihr hingen, wirkte sie wie die Marionette eines Puppenspielers.  
Die Großmutter atmete schwer. In ihren Lungen blubberte die Luft wie heißes Wasser in einem Kessel.

„Du musst keine Angst haben. Der Husten tut nicht weh.“, sagte sie.

 Die knochigen Hände der Großmutter fassten das Fräulein „So-La-La“ am Arm und zogen sie dicht zu sich heran.

„Was jetzt geschieht, ist nichts Schlimmes.“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

„Es ist wie in den Büchern.“, erinnerte sie ihre Enkelin an die Geschichten, die sie ihr vorgelesen hatte.
„Das Ende ist kein wirkliches Ende. Man muss nur auf die erste Seite zurückblättern. Schon beginnt alles wieder von neuem.“

Ein Hustenanfall unterbrach sie. Der Puppenspieler zog unerbittlich an den Fäden, an denen die Großmutter hing.  Ihr Körper begann zu zucken. Sie bog und krümmte sich.   

Ängstlich drückte das Fräulein „So-La-La“ den Kopf an sie, um ihren Herzschlag zu hören. Aber das Rumoren in der Lunge übertönte den vertrauten Klang.  Vom dröhnenden Glockenschlag einer Kathedrale in ihrer Brust war nur noch ein leiser Klingelton übriggeblieben.

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