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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Zwischenspiel

Es dämmerte bereits. Der Morgen kündigte sich an. Die Geschichte, die an meiner Bettkante saß, blickte mich an.
„In einsamen Nächten spüre ich immer noch ihren Herzschlag in meiner Brust.“, sagte sie.

Ich nickte. Mir erging es nicht anders. Es waren Jahren vergangen, seit ich ihre Geschichte niedergeschrieben und in den Wind geworfen hatte. Vieles hatte ich inzwischen vergessen. Aber der Herzschlag von Oma Rosa blieb mir in all der Zeit ein treuer Begleiter. Sein vertrauter Klang übertönte nachts die Stille im Haus.

Die Töchter, denen ich die Geschichten erzählt hatte, waren fort. Und mit ihnen ihre Stimmen. Ihr Lachen und Weinen, das in Mauern widerhallte.  Das Geklapper ihrer Schritte. Das Geschrei im Badezimmer. Der Lärm, mit denen die Türen ins Schloss fielen.  Alles ruhte unwiederbringlich in den Wänden, die mich schweigend anstarrten.
Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten.

Die Geschichte erhob sich und ging zum Fenster. Der Wind hatte sein Schweigen beendet und spielte in den Vorhängen.  Das Ticken des Weckers hallte laut in meinen Ohren. Der hinkende Zwerg, der in den Uhren seine  Runden lief, machte unbarmherzig auf sich aufmerksam.

„Es ist Zeit für mich, die Sonne über dem Horizont am Himmel hochzuziehen.“, erinnerte mich mein nächtlicher Besuch, dass sie in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war.

Mit der Traurigkeit, die jeden erfühlt, der allein zurückbleibt, blickte ich sie an.

„Werden wir uns wiedersehen?“, fragte ich.

„Es liegt an dir, mich zu finden.“, antwortete die Geschichte.

Sie schob die Vorhänge zur Seite und kletterte aus dem Fenster.  Für einen kurzen Augenblick schwebte sie mit der Leichtigkeit einer Feder in der Luft.

Ich fühlte mich zu müde, um aus dem Bett zu springen und sie festzuhalten. Der Wind, der sie davon trug, wehte von Ost nach West.

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