Die Mineralwasserflasche

Ich bin ein Mensch, der zur Ordnung und Reinlichkeit neigt. Trotzdem eilt mir der Ruf voraus, in kleinen Dingen nachlässig zu sein. Ich brösle und kleckere gerne. Wenn ich morgens das Badezimmer verlasse, vergesse ich die Zahnpastatube zu verschließen. Nach dem Morgenkaffee stelle ich die Tasse nicht in den Abwasch. Manchmal lasse ich die offene Butter auf dem Frühstückstisch zurück. Die Vorhaltungen darüber lächle ich weg. Ich bin nachsichtig mit den Klägern. Denn sie kennen die Geschichte nicht.

In den Anfängen meiner Berufslaufbahn freundete ich mich mit einem Kollegen an. Er war zehn Jahre älter als ich und führte ein unbeschwertes Familienleben. Seine Frau war berufstätig. Die beiden Kinder kamen daher nach der Volksschule regelmäßig ins Büro, um die Hausaufgaben zu erledigen.

Eines Tages drehte sich das Gespräch in der Büroküche um Mineralwasser. Mein Freund beklagte sich, dass seine Kinder ständig vergaßen, die Verschlusskappe auf die Flasche zu drehen. Er sah das teure Wasser, dessen Wert einzig in der Kohlensäure bestand, verschwendet. Die Aufregung war ihm ernst. Ich nickte beflissen.

Kurz danach unternahm er mit seiner Familie einen Ausflug nach Italien. Es war ein wunderschönes Wochenende an den Osterfeiertagen. Die warme Frühlingssonne verführte zu einem Picknick im Freien. Nach der Feier trennte sich die Familie. Mein Freund begleitete seine Mutter zu einer Freundin, die ihren Lebensabend in Italien verbrachte. Seine Frau unternahm mit den beiden Kindern und anderen Verwandten einen Bootsausflug auf einem nah gelegenen See. Als mein Freund abends mit seiner Mutter zurückkehrte, waren die Hotelzimmer leer. Das Auto seiner Familie stand immer noch am Parkplatz neben dem Bootshaus am See.

In den folgenden Tagen startete eine großangelegte Suchaktion. Man fand die Motorklappe des Bootes und eine Jacke mit einer stehengebliebenen Uhr in einer Innentasche. Der See hatte das Boot samt allen Insassen verschluckt. Sie wurden nie gefunden. Ihre Gräber auf dem Friedhof blieben leer.

Die folgenden Wochen waren von einem bedrückenden Schweigen begleitet. Eines Tages kehrte mein Freund an seinen Schreibtisch zurück. Der Büroalltag half ihm, die Leere in seinem Leben zu ertragen. Die Freundschaft dauerte noch über Jahre an. Wir tranken viel Wein miteinander. Auf dem Tisch stand immer eine offene Mineralwasserflasche. Niemand wagte es, die Verschlusskappe aufzusetzen.

Im Laufe der Zeit entwickelte mein Freund den Zwang, den Kopf ständig zur Seite zu drehen, als versuchte er über Dinge hinwegzusehen. Bei meinen eigenen Kindern blieb ich in kleinen Unachtsamkeiten stets nachsichtig. Ich wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Den See habe ich trotz mehrerer Gelegenheiten nie besucht. Vielleicht weil ich Angst hatte, auf eine Mineralwasserflasche zu stoßen, bei der an einem Wochenende jemand vergessen hatte, die Verschlusskappe aufzusetzen, bevor die Uhr in der Jackentasche stehenblieb.