
Das weiße Tuch
Ein Fremder spazierte durch die Straßen einer Stadt. Seine Kleider waren nach Maß geschnitten. Seine Haut roch nach Seife und Parfüm. Ein zerlumpter Bettler sprach ihn an und hielt ihm einen leeren Becher hin.
„Wirf eine Münze hinein, und ich werde dir jeden Wunsch erfüllen.“, trug er seine Bitte vor.
Der Fremde maß die armselige Gestalt mit einem abschätzigen Blick.
Er beschloss, sich einen Spaß mit ihm zu machen.
„Deine Absicht ehrt Dich. Aber bevor ich eine Münze in deinen Becher werfe, will ich dein Versprechen auf eine Probe stellen.“
Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche.
Der Bettler beäugte das Tuch, das ihm der Fremde unter die Nase hielt. Es war blütenweiß.
„Das Taschentuch gehört einer Frau, die mir vor vielen Jahren in dieser Stadt ihr Herz schenkte. Wenn du es schaffst, mir einen Kuss von ihr in diesem Tuch zu bringen, werde ich deinem Versprechen vertrauen und dich fürstlich bezahlen.“, versprach der Fremde.
Er nannte dem Bettler den Namen und die Adresse. Bevor er weiterging, vereinbarte er noch einen Treffpunkt für den nächsten Tag.
Der Bettler stopfte das Tuch vorsichtig in einen Plastikbeutel, den er am Gürtel trug. Mit der Aussicht auf leicht verdientes Geld machte er sich auf den Weg.
An der angegebenen Adresse fand er ein altes Haus vor. Er läutete die Glocke. Eine Frau öffnete ihm die Tür.
Noch am gleichen Tag besuchte der Bettler den Friedhof der Stadt. Langsam schritt er durch das Gräberfeld. Auf einem Grabstein entdeckte er den Namen, den er gesucht hatte.
Er legte das Taschentuch auf den Boden und packte eine Handvoll von der Erde, die das Grab bedeckte, hinein.
Am nächsten Tag ging der Bettler zu dem verabredeten Treffpunkt in einem Café. Der Fremde erwartete ihn bereits ungeduldig.
Wortlos legte der Bettler das zu einem Bündel geknotete Tuch auf den Tisch.
„Auf Dich ist kein Verlass“, fauchte ihn der Fremde mit gespielter Empörung an.
„Ich habe dir das Taschentuch anvertraut, um mir den Kuss einer Frau zu bringen. Stattdessen hast du es mit schmutziger Erde gefüllt.“
Der Bettel sah ihn mitleidig an.
„Ich habe das Tuch wie meinen Augapfel gehütet.“, widersprach er dem Fremden.
„Aber als ich sie um einen Kuss für dich bitten wollte, habe ich etwas gefunden, das du verloren hast.
„Ich vermisse nichts.“, höhnte der Fremde.
„Ich habe dir ihr Herz zurückgebracht.“, antwortete der Bettler.
Dann kehrte er dem Fremden den Rücken und schritt langsam davon, ohne seinen Lohn einzufordern.