
Ich habe einen Freund, der mich schon mein Leben lang begleitet. Er steht mir näher als alle anderen. Es gibt nichts, dass wir einander verschweigen. Wir teilen jeden Gedanken. Wir fühlen uns mit jedem Atemzug verbunden. Im Lauf der Jahre sind wir ein unzertrennliches Paar geworden.
Es gab Zeiten, da wir nicht genug kriegen konnten voneinander. Wir liebten uns täglich. Wir genossen uns von allen Seiten. Wir taten es von vorne und von hinten. Wir liebkosten uns und umgarnten uns mit Schmeicheleien. Jede Trennung verursachte uns unerträglichen Schmerz. Um einander zu sehen, ließen wir keine Gelegenheit ungenutzt.
Unsere Liebe war schamlos. Vor aller Augen fielen wir übereinander her. Wir liebten uns in Schaufenstern. Wir schlichen uns in fremde Badezimmer. Wir frönten unserer Lust aufeinander in Umkleidekabinen und auf Friseurstühlen. Es gab keine Bühne, die unserer Liebe verboten war.
Das ist alles lange her. Heute ertragen wir uns mehr, als wir uns lieben. Wenn wir uns zufällig auf der Straße begegnen, schlagen wir die Blicke nieder. Wir sind einander zu sehr gewöhnt, um uns noch mit verliebten Augen anzusehen.
Eine Trennung kommt nicht in Betracht. Wir haben es versucht. Aber es ist unmöglich. Wir können nicht ohne den anderen. Es gibt kein Entkommen für uns. Über die Jahre sind wir zu fest zusammen gewachsen.
Tagsüber achten wir darauf, dass sich unsere Wege nicht zu oft kreuzen. Nachts leisten wir uns noch manchmal Gesellschaft. Die Dunkelheit tröstet uns. Weil wir unsere Blicke nicht sehen müssen.
Aber jeder Morgen bringt neuen Streit. Im Badezimmer beginnt der Ärger. Dort haust mein Freund mit sich allein. Ungeduldig wartet er darauf, dass ich das Licht anschalte. Wenn sein Gesicht im Spiegel auftaucht, überfällt mich Mitleid mit ihm. Die Jahre sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Die Begrüßung fällt eisig aus. Seine Unzufriedenheit mit mir ist ihm anzusehen. Wenn er mich erblickt, höre ich seine Stimme im Kopf. Er geht hart mit mir ins Gericht. Nichts, das er an mir sieht, findet noch sein Gefallen. Ich gehe gnädiger mit ihm um, als er es mit mir tut. Ich weiß, dass die Wunden, die ich ihm schlage, meine eigenen sind.
Es tut gut, ihm die Zahnbürste in den Mund zu stecken. Das bringt ihn zum Verstummen. Ich wasche ihm das Gesicht. Ich rasiere ihn und kämme ihm die Haare. Ich mache ihn schöner, als er es verdient. Er lässt es geduldig mit sich geschehen.
Seine sorgenvolle Miene im Spiegel stimmt mich manchmal nachdenklich. Vielleicht ist seine Gehässigkeit nur gespielt. Vielleicht erträgt er nicht, zu wissen, dass ich ihn sehe, wie er mich sieht.
Beim Abschied lächelt er hin und wieder. Dann blitzt seine alte Seele durch. Das versöhnt mich mit ihm. Und ich lächle zurück.
Er ist mein Spiegelmensch. Wir sind uns Freund und Feind zugleich. An ihm messe ich mich jeden Tag selbst. Ich liebe ihn wie keinen anderen. Aber manchmal fällt es mir schwerer, als ich es wahrhaben will.
Die Geschichten, die von uns erzählen, sparen nichts aus. Nicht immer entsprechen sie in allen Details der Wahrheit. Manchmal kleiden sie sich in einem schöneren Kostüm, als es ihnen zu zusteht. Die Übertreibung liegt ihnen im Blut. Aber ein wahrer Kern verbirgt sich in den meisten. Die Schamlosigkeit, die sich ihnen findet, ist lediglich ihrer lockeren Zunge geschuldet. Denn Bösartigkeit liegt ihnen fern. In ihrem Tonfall neigen sie zur Milde. Und das Augenzwinkern ist allen gemeinsam.
Andreas Schwarz, Mai 2023

Seine Nutzlosigkeit wäre ihm letzte Nacht in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden, offenbart mein Freund seinen Schmerz. Ich sehe ihn ratlos an. <Was ist passiert?>, frage ich. Er deutet mit der Hand auf den Wohnzimmertisch. Ich blicke auf ein schwungvoll gebogenes Elektrogerät. Es erinnert an eine Zahnbürste. <Sechs Mal in zwanzig Minuten.>, erklärt er mir wehleidig. Ich überschlage die Rechnung im Kopf. Kann sich ausgehen. <Aber welchen Sinn hat es, sich sechs Mal hintereinander die Zähne zu putzen?>, frage ich.

Mir ist nicht nach einem gemütlichen Abendmahl zumute. Ich habe Ärger mit nach Hause gebracht. Heute schlucke ich ihn nicht hinunter. Aus meinen Augen blitzt pure Mordlust. Heute grille ich die Gemüsegesichter, die mir die Welt erklären.

Beim Blick in den Spiegel trifft mich fast der Schlag. Ein Glatzkopf starrt mich mit großen Augen an. <Was ist mit dir passiert?>, stöhne ich gequält. Mein Freund fährt sich mit der Hand über seinen rasierten Schädel. <Es ist ein Versuch.>, antwortet er lakonisch.

Mein Freund schüttelt mich aus dem Schlaf. Was ist los?, starre ich ihn entgeistert an. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Die Winterdepression will kein Ende nehmen. Seit Tagen warte ich vergeblich auf den Weltuntergang.

Fassungslos blicke ich mich im Spiegel an. Seit Tagen verkrusten meine Wangen nach der Rasur zu einer blutigen Landschaft. Willst Du mich umbringen, fürchte ich um meine Halsschlagader. Mein Freund schweigt. Er würdigt mich keines Blickes, seit ich seine nächtliche Einsamkeit bloßgestellt habe.

Ich klicke mich am Handy durch die Bilder des letzten Jahres. Mein Freund zieht ein abschätziges Gesicht. Er mag keine eingefrorenen Augenblicke. Sie bedeuten ihm nicht mehr als der Blick auf eine stehengebliebene Uhr. Die Bilder würden die falsche Zeit anzeigen, sagt er.

Die Liebesbedürftigkeit meines Freundes hat einen Punkt erreicht, der schnelles Handeln erfordert. Ich suche eine, die bleibt, schreit er mir morgens im Spiegel ins Gesicht. Ich lasse meinen Blick durch das Badezimmer schweifen. Vielleicht würde es helfen, ein Bett hineinzustellen, schlage ich vor. Frauen schlafen nicht gern in alten Wannen. Mein Freund starrt mich mit kalten Augen an.

Mein Freund führt ein verrücktes Leben. Meist verbringt er die Nächte schreibend vor dem Computer. Er kaut dabei Kaugummi und trinkt Kaffee. Vor Mitternacht findet er keinen Schlaf. Bei Tagesanbruch schlüpft er in seine Laufschuhe und läuft in der Dunkelheit in den Morgen hinein.

Manchmal fühle er sich haltlos, gesteht mein Freund. Er sei sein Leben lang eine Raupe gewesen. Nun würde er frei wie ein Schmetterling durch das Leben schweben. Aus einer Raupe, die über fünfzig ist, schlüpft kein junger Schmetterling, mahne ich ihn zur Vorsicht.

Findest Du mich schön?, fragt mein Freund, als ich im Badezimmer das Licht andrehe. Seine Frage nervt mich. Er stellt sie jedes Mal, wenn wir uns begegnen. Ich werfe ihm einen abfälligen Blick zu. Für Gefälligkeitsantworten ist es noch zu früh zu am Morgen. Ich lüge nicht gern vor dem Frühstück.

Mein Freund träumt von einem schönen Leben. Aber es gelinge ihm nie ganz, gesteht er mir. So sehr er sich Mühe gebe, etwas festzuhalten. Er stolpere jedes Mal über ein K in ein ungelebtes Leben.

Mein Freund versucht sich neuerdings im Glücksspiel. Zuerst hat er es mit Roulette versucht. Nun soll ihn das Lotto über sein Pech in der Liebe hinwegtrösten.

<Alle Kriege fressen Menschen.>, sagt mein Freund. <Aber sie ersticken daran. Jeder Krieg erstickt an seinen Toten.> Ich blicke auf die Bilder in den Nachrichten. Ich sehe keinen Krieg mehr. Ich sehe nur noch ein großes Fressen.

Ich sitze mit meinem Freund im Wohnzimmer. In den Nachrichten berichten sie über die Doktorspiele eines Schauspielers. Es sind schreckliche Spiele. Er spielt sie mit Bildern von Kindern. Mir dreht sich der Magen um. Ich sehe mir sein Gesicht an. Er hat es nicht notwendig, mit Kindern zu spielen. Warum tut er ihnen das an?, frage ich meinen Freund. Er hat Angst vor dem anderen, antwortet er.

Mein Freund verfolgt die Nachrichten im Fernsehen. Ich blättere den Sportteil der Zeitung durch. Indianerspiele werden verboten, sagt er. Ich blicke deprimiert zu ihm hoch. Meine Fußballmannschaft hat verloren.

Ich treffe meinen Freund im Badezimmer an. Er poliert sein Gesicht mit dem Rasierer. Sein Parfüm schwebt in der Luft. Ich tippe auf Tamara. Mein Freund wiegelt ab. Er würde seinen Großvater besuchen. Verwundert mustere ich ihn von oben bis unten. Für einen Friedhofsbesuch scheint er mir etwas fein herausgeputzt. Sein Großvater ist vor vierzig Jahren gestorben.

Abends treffe ich meinen Freund im Badezimmer. Er steht wie Tarzan vor dem Spiegel und rasiert seine Brusthaare ab. Der Dschungel mag keine weißen Haare.

Mein Freund ist wieder aktiv. Stolz präsentiert er mir seinen neuesten Erfolg. Sie heißt Regina, sagt er. Beim letzten Mal hat er von einer Petra geschwärmt. Ich bin nicht mehr auf dem Laufenden. Er ist bereits zwei Buchstaben weiter im Alphabet.

Die Frauengeschichten meines Freundes interessieren mich nicht. Ich weiß nicht, was er nachts alleine treibt. Bei ihm ist es anders. Er weiß von allen. Mir bleibt keine Wahl.

Was ist die bessere Entscheidung. Ein Leben lang am Anblick des Himmels zu leiden, der unerreichbar weit entfernt scheint? Oder das Unmögliche zu wagen und mit den Händen nach ihm zu greifen?

Es ist eine Sache, einem Freund im Schaufenster oder beim Friseur zu begegnen. Und eine andere mit ihm unter einem Dach zu hausen.

Manche Freunde kann man sich nicht aussuchen. Einer begleitet mich schon mein Leben lang.

Gleich vorweg. Die Geschichte ist fiktiv. Ich habe keinen Freund, der ein Frauenheld ist. Die angeführten Namen folgen dem Alphabet oder dem Zufall. Und ich hatte auch nie einen Hund.
