Warum der Wind weht

Der Wind wehte nicht immer um die Welt. Am Anfang der Zeit stand er still und wohnte in einem Haus mit einem kleinen Vorgarten. Er führte ein beschauliches Leben. Meist saß er in seinem Wohnzimmer auf einem Stuhl und begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken.

Hin und wieder ging er vor die Tür, um sich im Garten die Füße zu vertreten. Vom Himmel schien nur die Sonne auf ihn herab. Vormittags spazierte er über seine Wiese gemächlich nach Westen. Sogleich erhob sich ein laues Lüftchen nach Südwest. Nachmittags brach er zu einem kurzen Ausflug nach Osten auf. Dann blies eine leichte Brise aus Nordost. Ansonsten bewegte er kein Blatt auf der Welt.

Eines Tages tauchte eine Wolke über seinem Haus auf. <Woher kommst du?> grüßte der Wind den unerwarteten Gast, als er zum Himmel hoch blickte. <Ich weiß es nicht.> antwortete die Wolke. <Als am Morgen die Sonne aufging, stand ich plötzlich über deinem Haus.> <Du kannst mir Gesellschaft leisten.> lud der Wind die Wolke zum Bleiben ein.

Die Wolke nahm die Einladung gerne an. Da der Wind still stand, konnte sie ohnehin nicht fort. Zwischen den beiden entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Jeden Morgen trat der Wind aus dem Haus und grüßte die Wolke. Jeden Morgen grüßte die Wolke zurück.

Eines Tages gerieten sie aus nichtigem Anlass in Streit. <Geh mir aus der Sonne.> herrschte der Wind die Wolke an. <Nichts, was ich lieber tun würde.> zischte die Wolke zurück und färbte sich zu einer dunklen Gewitterfront. Da verlor der Wind die Geduld und brauste zu einem gewaltigen Sturm auf, der die Wolke fort blies.

<Endlich verdunkelt ihr Schatten nicht mehr meinen Garten.> brummte der Wind und schloss missmutig die Tür. Aber bereits am nächsten Tag bereute er seine Unbeherrschtheit. Ohne die Wolke hatte er niemanden, den er morgens grüßen konnte. Und es gab keinen, der seinen Gruß erwiderte.

<Wohin ist sie geflogen?>, fragte der Wind die Sonne, die den Streit zwischen ihnen stumm verfolgt hatte. <Dein Sturm hat sie nach Westen getrieben.> antwortete die Sonne gleichmütig.

Wortlos ging der Wind in sein Haus zurück. Nach wenigen Minuten kam er mit einem Koffer in der Hand wieder heraus. Er sperrte die Haustür ab und verriegelte alle Fenster. Dann erhob er sich in die Luft und flog der Wolke nach Westen hinterher. Seither weht der Wind in der Welt.

Manchmal braust er als Sturm durch das Land, weil er wütend ist auf sich. Dann knicken Bäume und Strommasten um. Manchmal hört man ihn spät nachts in den Gassen heulen, weil er sich einsam fühlt.

Ob der Wind seine Wolke eines Tages wieder finden wird, bleibt ungewiss. Das wissen nur der Wind und die Wolke. Aber solange der Wind in der Welt weht und die Wolken am Himmel ziehen, besteht die Hoffnung, dass sie sich eines Tages wieder begegnen.