Der Blick aus dem Fenster

Die Nacht war sternenhell, als der Tod auf das Dach kletterte. Der Vollmond versprach ihm einen leichten Fang. Seine Beute stand nur einen Schritt von ihm entfernt im offenen Fenster. Ein letzter Atemzug. Ein letzter Gedanke. Dann würde sie in seinem Mahlwerk verschwinden.

<Noch ist die Zeit nicht gekommen, die Rechnung zu stellen.>, sprach ihn eine Stimme von der Seite an. <Er wird sich Dir nicht ergeben, solange er Gefallen an dem Blick aus dem Fenster findet.> Erstaunt nahm der Tod den Schatten wahr, der sich auf der Hausmauer abzeichnete. Er stammte von einem goldenen Engel, der auf dem Dach der Garage hockte. Im Mondlicht streifte die Spitze seiner Flügel das beleuchtete Fenster, aus dem eine Gestalt ins Freie blickte.

>Sein Herz sehnt sich nach Ruhe.>, gab sich der Tod siegessicher. <Das Leben mag für Dich nur einen Augenblick bedeuten.>, antwortete der Engel. Triumphierend blickte der Tod den Engel an. Was nicht länger währte als einen Wimpernschlag, rechtfertigte keine Anstrengung. Keine Freude. Keine Liebe. Keine Hoffnung. Keinen Schmerz. Kein Leid. Er hatte mehr zu bieten als den Trost von Engelsflügeln. Er versprach Erlösung und Stille.

Der Engel lächelte. <Du irrst.>, sagte er. <Der Stoff, aus dem er gemacht ist, existiert seit Anbeginn der Welt. Es hat Milliarden Jahre gedauert, ihn zu schaffen. Und er wird dich überdauern bis ans Ende aller Tage.> <Er hat die Mühe nicht gelohnt.>, lachte der Tod und blickte auf die Gestalt über ihm.<Bald ist er mein.>

„Alles Leben ist besser als jeder Tod.“, widersprach ihm der Engel. Der Tod brach in schallendes Gelächter aus. <Das Leben ist teuer bezahlt.>“, spottete er. Der Engel blickte ihn gelassen an. <Was kann es Schöneres geben, als die Welt mit offenen Augen und klaren Gedanken zu sehen. Wenn alles, das in einem ist, wieder zu den kleinsten Teilen auseinander fließt, werden sie diesen Blick mittragen. Niemand weiß, in welchen Dingen sie sich neu finden. Aber in ihrem Innersten werden sie fühlen, für einen Wimpernschlag lang die Welt gesehen zu haben.>

Im selben Moment erlosch das Licht über ihnen. Die Gestalt im Fensterrahmen war verschwunden. Der Tod zuckte mit den Schultern. <Ich kann warten.“, sagte er und löste sich in der Dunkelheit auf.