
Die wahre Größe eines Menschen offenbart sich erst dann, wenn man ihn aus den Augen verloren hat. Die Verlockungen der Welt sind vielfältig und die Ablenkung fällt leicht. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man zurückblickt. Und manchmal ist man über die Größe der Lücke erstaunt, die jemand zurückgelassen hat.
In welchem Zeitalter die Geschichte spielt, von der hier die Rede ist, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit bestimmen. Sie hat sich vor vielen Jahrhunderten zugetragen. Im Laufe der Zeit hat sie oft das Bühnenbild gewechselt und ihre Kostüme getauscht. Aber in ihrem Kern ist sie unverändert geblieben. Sie handelt von einer Prinzessin, die mit der Wahl ihres Königs unzufrieden ist. Sein Ansehen erscheint ihr zu unbedeutend und sein Reich zu klein.
<Warum kann ich nichts Besseres haben als ihn.>, schätzt sie seine Gesellschaft gering. Was mit einem Zweifel beginnt, endet in abweisenden Blicken. Unter ihnen schrumpfen auch Könige zu Zwergen.
Der König liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Aber sein Bemühen bleibt vergeblich. Er schafft die besten Speisen für sie heran. Die Prinzessin lässt keinen Krümmel auf dem Teller zurück. Mit vollem Bauch zieht sie eine saure Miene. Für sie ist es bloß die Mahlzeit eines Zwerges. <Von diesem Fingerhut soll ich satt werden.>, nörgelt sie.
Zum Beweis seiner Liebe schenkt ihr der König ein wunderschönes Schloss auf dem höchsten Hügel seines Reiches. Aber in den Augen der Prinzessin ist es bloß die Behausung eines Zwerges. <In einer winzigen Hütte muss ich wohnen.>, rümpft sie die Nase.
Die Liebe des Königs bleibt unerschütterlich. Was er sich an den Fingern abspart, verschwendet er an prächtigen Gewändern für die Prinzessin. Aber selbst die feinsten Stoffe wollen ihren Ansprüchen nicht genügen. Es sind bloß die Kleider eines Zwerges.<In Lumpen muss ich auf die Straße gehen.>, herrscht sie ihn an.
Der König erträgt die ständigen Nörgeleien ohne böse Widerworte. Bis der Tag kommt, an er sich ein Kind wünscht. <Zur Mutter eines Winzlings willst du mich machen.>, weist die Prinzessin seinen Wunsch zurück. Für sie ist es bloß das Kind eines Zwerges, das in ihrem Bauch heranwachsen würde.
Der König blickt die Prinzessin schweigend an. Traurig packt er seine Sachen und geht aus der Tür. Es ist ein Abschied für immer. Zuerst weint ihm die Prinzessin keine Träne hinterher. <Meine besten Jahre habe ich mit einem Zwerg vergeudet.“, bedauert sie sich selbst.
In den Monaten danach ereignen sich seltsame Dinge. Kein Essen will der Prinzessin wieder so gut schmecken wie die Köstlichkeiten, die der König für sie zubereitet hat. Je prächtiger das Schloss ausschmückt, desto verlassener erscheinen ihr die Zimmer darin. Nicht anders ergeht es ihr mit den Kleidern, die in den Schränken verstauben. Wie zum Hohn strahlt sie in den Stücken am schönsten, die er für sie ausgesucht hat. Die größte Schwermut überfällt die Prinzessin jedoch bei dem Gedanken an das Kind, das sie ihm nie geboren hat.
Die Jahre vergehen. Manchmal ziehen andere Könige in das Schloss ein. Aber keiner reicht an den Schatten heran, den ein anderer zurückgelassen hat. Er erstreckt sich über die leeren Gänge bis in die letzten Winkel des Schlosses. Da erkennt Prinzessin die wahre Gestalt des Königs, der in ihren Augen zum Zwerg schrumpfte. In einsamen Nächten bereut sie ihre Unzufriedenheit mit ihm. Aber ihre Einsicht kommt zu spät. Die Lücke, die sie tief in ihrem Herzen spürt, kann niemand mehr schließen. Denn sie ist so groß, wie sie nur ein Riese hinterlassen kann.