
Mein Freund schüttelt mich aus dem Schlaf. <Jemand verlangt nach dir.>, brüllt er mich an. Ich starre ihn entgeistert an. <Was ist los?>, stammle ich schlaftrunken. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Die Winterdepression will kein Ende nehmen. Seit Tagen warte ich vergeblich auf den Weltuntergang.
Das Telefon schrillt in der Melodie der kommenden Apokalypse. Ich blicke um mich. Mein Handy liegt stumm auf dem Tisch. Langsam begreife ich. Der Weltuntergang telefoniert immer noch im Festnetz. Hoffnungsvoll schäle ich mich aus dem Deckenlager und tappe zum Apparat ins Vorzimmer.
<Hallo.>, hauche ich mit sterbender Stimme in den Hörer. Der Weltuntergang spricht mich mit Namen an. Wir dürften vor Jahren schon einmal miteinander telefoniert haben. Es stehe schlecht, teilt er mir das nahe Ende mit. Ich nicke zustimmend. Nun sei die Zeit gekommen, die letzten Angelegenheiten zu regeln. Ein leichter Zweifel beginnt sich in mir zu regen.
<Onkel Franz?> , frage ich nach einigem Zögern nach.
Der Weltuntergang muss warten. Ich habe noch etwas zu tun. Onkel Franz bittet mich um einen letzten Gefallen. Er möchte neben meiner Tante begraben werden. Als Gegenleistung winkt eine Erwähnung im Testament. Er nennt einige Zahlen. Meine Miene hellt sich auf.
Onkel Franz ist der reiche Onkel in der Schweiz. Meine Tante und er führten bis zu ihrer Trennung eine merkwürdige Ehe. Dagegen wirkt die Hölle wie das Paradies. Sie hat meine Tante zuerst zur Flasche und dann ins Grab gebracht.
Schnell wird klar, dass Onkel Franz seinem Ruf gerecht wird. Er besteht auf eine persönliche Testamentsübergabe. Man dürfe keine Zeit verlieren. Es stünde auf Messers Schneide. Seine bevorstehende Herz-OP lasse das Schlimmste befürchten. Als Treffpunkt nennt er die halbe Wegstrecke zwischen unseren Wohnorten.
Am nächsten Morgen rase ich frühmorgens in Richtung Schweiz. Es gehe um jede Minute, treibt mich Onkel Franz telefonisch an. Er lotst sich mich zu einer Parkbucht an der Autobahn. Die Polizei fährt mit Blaulicht an mir vorbei. Der Schweiß treibt mir aus allen Poren. Ich fühle mich wie ein Drogenkurier.
Nach endlosen Minuten setzt ein nagelneuer Sportbolide den Blinker an. Mit dröhnendem Motor parkt er neben mir ein. Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich hatte einen Notarztwagen erwartet.
Eine drahtige Gestalt springt im Sportdress aus dem Wagen. Onkel Franz nimmt neben mir auf dem Beifahrersitz Platz. Ich blicke ihn von der Seite an. Der Tod sieht anders aus. Er ist 79 und wirkt jünger als ich. Durchtrainierte Statur. Wallendes, schulterlanges Haar. Braungebranntes Gesicht.
Er entschuldigt seine Verspätung. Er habe sich beim Joggen verlaufen. Dann reicht er mir ein verschlossenes Kuvert. Ich quittiere die Übergabe mit meiner Unterschrift. Onkel Franz blickt auf die Uhr. Er hat es eilig. Ein neues Projekt wartet in seinem Büro auf ihn. Mit einem flüchtigen Händedruck verabschiedet er sich und braust mit durchdrehenden Reifen in seinem Boliden davon. Nachdenklich blicke ich den kleiner werdenden Rücklichtern hinterher.
Zuhause lege ich das Testament ungeöffnet in den Schrank. Sein Inhalt interessiert mich nicht. Ich habe meine Erbschaft schon gemacht. <Was hat er dir vermacht?>, fragt mein Freund. <Dass sich das Leben jeden Tag lohnt.>, antworte ich.
Onkel Franz geht es inzwischen wieder gut. Er joggt immer noch jeden Morgen.
Inzwischen ist die Ähnlichkeit zwischen uns nicht mehr abzustreiten. Mein Friseur staunt. Die Haare wachsen mir bereits in den Nacken hinein.