Schneewittchenspiegel

<Findest Du mich schön?,> fragt mein Freund, als ich im Badezimmer das Licht andrehe. Seine Frage nervt mich. Er stellt sie jedes Mal, wenn wir uns begegnen. Ich werfe ihm einen abfälligen Blick zu. Für Gefälligkeitsantworten ist es noch zu früh am Morgen. Ich lüge nicht gern vor dem Frühstück. Er möge seinen Schneewittchenspiegel zu Rate ziehen, knurre ich zurück. Er hängt im Keller. Beleidigt rauscht mein Freund aus der Tür.

Ich nutze seine Abwesenheit für eine Schönheitsdusche. Das Wasser aus der Brause wäscht mir die Müdigkeit aus dem Kopf. Bei der Rasur taucht mein Freund wieder im Spiegel auf. Er lächelt mich an. Der Schneewittchenspiegel tut ihm gut. Er tut auch mir gut. Wenn mein Freund lächelt, lächle ich zurück.

Der Spiegel stammt aus der Hinterlassenschaft seiner Großmutter. Er erinnere ihn an die Zeit mit ihr, macht er mir beim Einzug weis. Mit ihr habe er oft als kleiner Junge hineingeblickt. Als er mich um einen Platz dafür bittet, verbanne ich das sperrige Ding in den Keller. Ich ertrage keine Erinnerungen im Wohnzimmer.

Seit der Spiegel im Keller hängt, läuft mein Freund die Stiege hinunter. Wenn er zurückkommt, glänzen seine Augen. Irgendwann schleiche ich ihm hinterher. Seine Pose vor dem Spiegel ist eindeutig. <Wer ist der Schönste?> Unter meinem Gelächter gesteht er kleinlaut die Wahrheit ein. Für den Spiegel sei er immer noch der kleine Junge, der ihm die Schneewittchenfrage stellte. Für mich bist Du der Allerschönste, habe ihm der Spiegel damals geantwortet.

<Und heute?>, frage ich. Mein Freund ignoriert mein hinterhältiges Grinsen. Der Spiegel halte an seiner Meinung fest, lässt er mich wissen. Seine Miene lässt keine Zweifel zu. Ich verbeiße mir die Antwort, die mir auf der Zunge liegt. Er kennt sie, wenn er sich im Spiegel sieht. Das Alter hat ihm schon einige Streifschüsse verpasst. Es trifft nicht nur ihn allein. Es trifft alle. Manchmal kann Schönheit auch eine Erinnerung sein, denke ich.

Mein Freund mag keine Bilder von sich. Er schlägt einen weiten Bogen vor jeder Kameralinse. Die eingefrorenen Augenblicke auf den Fotografien erschrecken ihn. <Die Endgültigkeit, die sie ausstrahlen, lässt sich nicht mehr ändern.>, sagt er. In seinem Schneewittchenspiegel bleiben die Bilder flüchtig. Wenn er zur Seite geht, verschwinden sie, ohne einzufrieren. Bei ihm muss er sich keinen Vergleichen stellen. Manchmal strahle ihn ein kleiner Junge daraus an, sagt mein Freund.

>Der Spiegelmuss dich lieben.>, lache ich. Denn nichts hält einem die Wahrheit schonungsloser ins Gesicht. Mein Freund sieht mich ratlos an. <Was man mit den Augen der Liebe ansieht, spart die Veränderungen aus.>, erkläre ich ihm.

Manchmal beneide ich ihn um seinen Schneewittchenspiegel im Keller. Aber einen anzuschaffen lohnt sich nicht mehr für mich. Es ist um Jahre zu spät dafür. Nie würde mich ein kleiner Junge daraus anstrahlen.