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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Die Ameise, die den Himmel umarmen will

Eine Ameise, die auf einem Grashalm saß, blickte sehnsüchtig zu den Wolken hinauf, die über ihr vorbeizogen.

„Wie herrlich muss es sich anfühlen, den Himmel zu berühren.“, beneidete sie die hundertjährige Eiche am Rand der Wiese, deren Wipfel bis in die Wolken hinein ragte.
Eines Tages fasste die Ameise einen Entschluss.

„Es genügt nicht, in die Ferne zu blicken, wenn man eine Sehnsucht spürt. Man muss sich auf den Weg machen.“, sagte sie zu einem Grashüpfer, der von ihren Reiseplänen wusste.

„Der Himmel erwartet mich.“,  schlug sie seine Warnungen in den Wind und kletterte den Stamm der knorrigen Eiche hoch.

Es wurde eine lange Reise. Je mehr Höhe sie gewann, desto bedrohlicher schwankten die Äste im Wind. Unzählige Male geriet die kleine Ameise in Gefahr, in die Tiefe zu stürzen. Aber keine Sekunde dachte sie daran, umzukehren. Unbeirrt hielt sie an ihrem Ziel fest.

„Den Himmel zu umarmen, lohnt alle Mühe.“, fasste sie nach jedem Rückschlag neuen Mut.

Unter unendlichen Entbehrungen erreichte die Ameise die Spitze des letzten Astes. Ihr Herz lachte vor Freude. Nie hatte sie sich dem Himmel näher gefühlt, als in diesem Augenblick.

Erwartungsvoll streckte sie ihre Fühler in die Höhe, um ihn zu umarmen.
In diesem Moment flog ein Vogel aus seinem Nest und pflückte die Ameise wie eine reife Frucht vom Baum.

„Was war die bessere Wahl?“, fragte mich die Geschichte, die an meiner Bettkante saß.   
„Ein Leben lang am Anblick des Himmels zu leiden, der unerreichbar weit entfernt scheint? Oder das Unmögliche zu wagen und mit den Händen nach ihm zu greifen? Wäre die Ameise auf ihrem Grashalm sitzen geblieben, hätte ihr Leben nicht im Schnabel eines hungrigen Vogels geendet.“

„Aber dann wäre sie auch dem Himmel niemals so nahe gewesen.“, antwortete ich.

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