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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Die Welt war viel zu niedrig für sie. Ständig stieß sie mit dem Kopf gegen Straßenlaternen und Dachvorsprünge.

Bei schlechtem Wetter musste sie sich tief unter ihren Regenschirm ducken, um sich nicht die Stirn an den Wolken blutig zu schlagen.

„Mit irher Görße  shiet sie bestmimt  bis nach Arfika.“, schwärmte das Fräulein „So-La-La“  der Großmutter von der Aussicht ihrer Mutter vor.

In den Nachrichten und Schlagzeilen wimmelte es von Menschen, die ihr Leben lang auf den Zehenspitzen spazierten, um dem Himmel näher zu kommen.
Mit wichtigtuerischen Gesichtern lachten sie von den Titelseiten der Zeitungen.   Ihre  staatstragenden Reden dröhnten aus allen Nachrichtenkanälen. Meist gefielen sie sich darin,  um die Weltherrschaft zu streiten oder zumindest weltberühmt zu sein.

Das Fräulein „So-La-La  zweifelte keine Sekunde, dass die Mutter mit ihrer schwindelerregenden Größe eine wichtige Rolle in der Welt spielte.  Musste sie doch schon frühmorgens das Haus verlassen, um wichtige Geschäfte zu erledigen.  

Bevor die Sonne aufging, hetzte das Fräulein So-La-La“  an der Hand der Mutter die Stufen eines muffigen Treppenhauses hoch.  Während sie sich tagsüber um ihren Anteil an der  Weltherrschaft  kümmerte,  blieb das Fräulein „So-La-La“ in der Obhut der Großmutter zurück.  Sie wohnte im dritten Stock eines heruntergekommenen Hochhauses.

Im Sommer hing der Geruch von  Küchenabfällen in der Luft.  An kalten Wintertagen  kitzelte der Rauch verbrannter Kohlen die  Nase.  

Nach einer kurzen Umarmung stürzte die Mutter wieder die Stufen zum Ausgang hinunter.
Manchmal war sie so in Eile, dass sie vergaß, ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange  zu drücken. Dann hastete sie zwei Stufen auf einmal nehmend zurück, weil ein kleines Mädchen ein fürchterliches Gebrüll veranstaltete und drei Umarmungen lang untröstlich blieb.

Es waren jene Tage, an denen die Sonne nicht aufging und die Menschen ratlos zum Himmel hochblickten. 

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