Der Traum vom schönen Leben

Mein Freund träumt von einem schönen Leben. Aber es gelinge ihm nie ganz, gesteht er mir. So sehr er sich Mühe gebe, etwas festzuhalten. Er stolpere jedes Mal über ein K in ein ungelebtes Leben. Ein Mal sei es ein Leben, das er nicht gewagt hat. Ein anderes Mal sei es ein Leben, vor dem er weggelaufen ist. Und manchmal sei es ein Leben, nach dem er sich sehnt. Alles ende mittendrin, wenn er morgens die Augen aufschlägt. Die Tage sind zu lang, um die Erinnerung nicht zu verlieren. Nachts bleibe ihm keine andere Wahl, als ein neues Leben zu träumen.

Ob es helfen würde, das Licht brennen zu lassen, äußere ich Zweifel an seinem Verstand. Dann müsste er im Dunkeln nicht ständig über eine seiner Frauengeschichten stolpern. Mein Freund schläft allein im Badezimmer. Ich weiß nicht, mit wem er sich die Nächte um die Ohren schlägt. Es sind zu viele Buchstaben im Alphabet. Er sollte sich mehr Schlaf gönnen. Morgens sieht er müde aus.

<Die Nächte sind lang genug, um besser auszusehen.>, erkläre ich ihm genervt. <Nicht lang genug für ein ganzes Leben.>, antwortet mein Freund. Etwas bleibe jedes Mal im Dunkeln zurück. Etwas, das unausgesprochen geblieben wäre. Etwas, das sich zu früh seinem Blick entzogen hätte. Er leide an der Ungewissheit der ungelebten Leben. Es würde zu viele K in der Welt geben. Sie seien die Stolperfallen, die verhindern, Klarheit zu bekommen.

Ich fühle mich nicht wach genug, um mir eine seiner traurigen Liebesgeschichten anzuhören. Ich habe mich inzwischen an das Alleinsein gewöhnt. Es bereitet mir keinen Schrecken mehr. Die Schönheit des Lebens bestehe darin, es nicht in Frage zu stellen, würge ich die Unterhaltung mit ihm ab.

Mein Freund verzieht keine Miene. Die Schlaflosigkeit hängt ihm in den Augen. Wir haben keinen Blick mehr füreinander. Schweigend putzen wir uns die Zähne. Beim Abschied gelingt es mir nicht, ihn mit einem Lächeln aufzuheitern. Er träume von einem Leben ohne K, schmeißt er mir sein Leiden ins Gesicht. Karin, fährt es mir blitzartig durch den Kopf. Er hat mit ihr einige Tage lang telefoniert. Vorsichtig blicke ich mich im Badezimmer um. Ich lasse mich nicht gerne bei der Morgentoilette beobachten. Aber seine alte Wanne ist leer. Wir sind allein. Es besteht keine Gefahr, über einen seiner Buchstaben im Alphabet zu stolpern. Sie scheint ihn frühmorgens verlassen zu haben. Ich verschwende keinen Gedanken mehr an seinen verzweifelten Blick. Kopfschüttelnd lasse ich ihn allein im Badezimmer zurück.

In der Frühstückszeitung stoße ich in den Schlagzeilen auf eine Krise zwischen den Weltmächten. Die Nachrichten erschüttern mit einer von einem Erdbeben verursachten Katastrophe. Mit den Bildern eines gewohnten Krieges schalte ich den Fernsehapparat schwarz.

Im Büro erfahre ich von der Krankheit eines Kollegen. Sein Krebs endet meist tödlich. Am Telefon heult sich ein Freund den Kummer mit seiner Liebe von der Seele. Auf der Heimfahrt ermahnt mich ein Plakat am Straßenrand, dass meine Autofahrt das Klima gefährdet.

Eine unbekannte Angst beschleicht mich. Langsam beginne ich meinen Freund zu verstehen. Manchmal ist er klüger, als ich es weiß. Manchmal erklärt sich ihm das Schicksal mit einem Buchstaben im Alphabet. Vielleicht hat er recht. Es gibt zu viele K in der Welt. Es wäre eine bessere ohne sie. Auf ihnen lastet die Verantwortung für zu viele ungelebte Leben. Karin gehört nicht dazu. Sie ist nie in seiner Wanne aufgetaucht.

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