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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Sie sprang vom Stuhl hoch und lief zum Kleiderschrank. An der Innenseite der Kastentür hing ein schmaler Spiegel.
Minutenlang beäugte sie jede Stelle an sich. Aber nirgendwo fand sie einen Punkt, der ihr ein  einzigartiges Tüpfelchen verlieh. Ihr Urteil über sich fiel vernichtend aus. Sie hatte nicht mehr Bedeutung für die Welt als ein  Grashalm oder ein Sonnenstrahl.

„Der Speigel ziegt nur mien dmumes Gesciht.“,  

Die Wangen des Fräulein „So-La-La“ färbten sich knallrot vor Wut über die Ungerechtigkeit, die man ihr zumutete.  

„Es braucht keinen Stift,  der dir einen Punkt über den Kopf malt.  Das Tüpfelchen, das dich zu etwas Besonderem werden lässt, bist du selbst.“, widersprach die Mutter.
„Unter tausenden Mädchen, die gleichzeitig aus einem Spiegel lachen, wirst du dich daran erkennen.“

Das Fräulein „So-La-La“ blickte ihre Mutter nachdenklich an. Zögerlich begann sie, sich vor dem Spiegel in Pose zu werfen.  Sie verrenkte sich in alle möglichen Stellungen. Ob sie mit den Augen rollte, mit der Stirn runzelte oder zog Grimassen. Jede Bewegung bewirkte eine Veränderung im Spiegel.

Nach und nach dämmerte ihr die Wahrheit.  Ein letzter Versuch beseitigte alle Zweifel.  Sie lächelte sich an. Der Spiegel lächelte zurück.
Erlöst atmete sie auf. Wie hatte sie so blind sein können?  Anders als ein Strich auf einem Blatt Papier konnte sie über ihre Bestimmung selbst entscheiden.

Jedes Haar an ihr zählte unermesslich mehr als der mickrige Strich auf dem Papier, der sich einbildete, wichtig zu sein, weil ein Punkt über ihm schwebte. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, ein Buchstabe zu sein. Ohne die Hand ihrer Mutter wäre er bedeutungslos geblieben wie  ein Grashalm in der Wiese oder ein Sonnenstrahl am Himmel.

Ob ihr dabei zum Lachen oder zum Weinen zumute war. Ob sie sich hässlich oder schön fühlte. Ob sie einen Jemand oder einen Niemand in ihrem  Spiegelbild erkannte.

Kein Stift der Welt bestimmte ihren Stellenwert.  Es blieb ihre eigene Entscheidung, wie sie aus dem Spiegel in die Welt blickte.

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