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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Ich erinnerte mich wieder an die Sätze, die ich ihr vor vielen Jahren in den Mund gelegt hatte. Ich musste nicht nachdenken.  Sie kamen mir so leicht über die Lippen wie damals, als ich sie in die Tastatur getippt hatte.

„Sie war schlank wie eine Gerte und leichter als der Morgentau Ein laues Lüftchen genügte, um sie bis über

die höchsten Wolken hinaustragen.“
Eine wilde Begeisterung erfasste mich. Alle Traurigkeit war wie weggeblasen.  In meinem Kopf begann ein Film zu laufen.

„Zum Frühstück schlürfte sie Kokosnüsse in Afrika.“, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.

Die Geschichte blickte mich an.

„Mittags speiste sie Straußeneier in Australien.“, las sie in meinen Gedanken.    

„Abends aß sie Reis in China.“, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.
Minutenlang wechselten wir uns in dieser Tonart ab.

„Und jeden Tag kreiste sie um Schlag Mitternacht wieder um den Kirchturm ihrer Heimatstadt.“, sagte ich, als kein Flecken auf der Erde mehr übrig war.

Die Geschichte an meiner Bettkante lächelte.

„Der Riese in meinem Kopf hat ihr jedes Wort geglaubt.“

„Er besitzt die Kraft, Berge zu versetzen.“, lachte ich.

Die Geschichte nickte.

„Ohne diesen Glauben wäre meine Reise nicht möglich gewesen.“, sagte sie.
„Er hat mir die Welt geöffnet.“

Plötzlich verstand ich, warum die Geschichte durch mein Schlafzimmerfenster gestiegen war und an meine Bettkante gesetzt hatte. Sie wollte mir beweisen, dass niemand die Macht besaß, ein Herz für immer zum Verstummen zu bringen.

„Wenn wir uns erinnern,  hören wir es in uns schlagen.“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Mein Blick wanderte zu der Mappe. Es lagen noch zwei Blätter darin.  Ich wählte eines und reichte es ihr.
Die Geschichte warf einen Blick auf die alte Zeichnung, aus der ein riesiger Wasserkopf in die Welt lachte.

„Es ist meine letzte Geschichte.“, sagte sie.

Schlagartig verebbte mein Lachen.  Ich schwieg.  Die Stimme in meinem Kopf erstickte jedes Wort in mir.       

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