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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Augenblicklich verlor die Mutter die Farbe aus dem Gesicht. Ihre Lippen verengten sich zu schmalen Rasierklingen. Der notdürftig geflickte Geduldsfaden knackste hörbar.

„Wenn der Strich sein Tüpfelchen bekommt, wird es für jedermann erkennbar, was er wirklich ist.“, rang sie nach Fassung.

Mit zittriger Hand setzte sie den Punkt.

Wie durch ein Wunder erfuhr der Strich durch den kleinen Fleck, der über ihm schwebte, eine völlig andere Bedeutung.  

Die Mutter atmete erlöst auf. Der unglückselige Anfang eines Strichmädchens hatte sich in etwas völlig Unbedenkliches verwandelt.

„Nun ist es nicht mehr irgendein Strich, sondern ein Buchstabe.“, verlieh sie ihrer Erleichterung Ausdruck.

Das Fräulein „So-La-La“  hatte Mühe, den gestreckten Zeigefinger ihrer rechten Hand in Zaum zu halten.
Die Behauptung ihrer Mutter spottete jeder Vernunft Hohn.
Ein winziger Punkt gab den Ausschlag, ob aus einem  x-beliebigen Strich, der gerade noch einem Sonnenstrahl oder einem Grashalm zum Verwechseln ähnlich sah, etwas Einzigartiges wurde.  

„Durch den Punkt weiß der Strich, dass er eine Bedeutung hat. Er ist kein gewöhnlicher Strich mehr, der alles Mögliche sein könnte, sondern ein Buchstabe, aus dem Wörter und Geschichten entstehen.“, sagte die Mutter.

Das Fräulein „So-La-La“  legte den Kopf in den Nacken. Über ihr schwebte kein Punkt, der ihr etwas Unverwechselbares verlieh.  

Plötzlich wusste sie, woran es ihrem Dasein mangelte. Es  fehlte ihr die Bestimmung, etwas zu sein.
Voller Neid starrte sie auf das „i“, das sich wichtigtuerisch in Pose warf.  Es benötigte ihre ganze Willenskraft, um dem Verlangen zu widerstehen, die Zeichnung zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen.   

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