
In uralten Zeiten entdeckten die Menschen das Uhrwerk der Zeit tief im Inneren einer Höhle. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt. Eilig wurde eine Versammlung einberufen. Aus allen Erdteilen kamen die Völker und Stämme zusammen. Es wurden Reden gehalten. Es wurden Beschlüsse gefasst. Am Ende machten sich Boten in alle Windrichtungen auf, um das Ende der Zeit zu verkünden.
Die besten Handwerker wurden beauftragt, die riesigen Zahnräder der Zeit mit großen Baumstämmen zu verkeilen. Ein ohrenbetäubendes Donnern, Krachen und Rumoren erfüllte die Welt. Als der Lärm verebbt war, herrschte völlige Stille. Die Zeit war stehen geblieben.
Die Menschen jubelten und streckten die Arme in die Höhe. Die Ungewissheit kommender Tage flößte ihnen keine Furcht mehr ein. Von nun an würde alles bleiben, wie es immer schon gewesen war. Der Tod trat in den Schatten zurück. Die Alten starben nicht mehr. Wer gesund war, blieb es für alle Tage. Wer krank im Bett lag, spürte seine Kräfte nicht weiter schwinden. Es herrschte eine Fröhlichkeit in der Welt, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Die Menschen lebten unbekümmert in den Tag. Jugend und Schönheit welkten nicht mehr mit den Jahren dahin.
Aber bald wurden ersten Stimmen laut, die das Verschwinden der Zeit beklagten. Denn an ihrer Stelle trat ein neuer Schrecken die Herrschaft über die Welt an. Die Schwangeren konnten ihre Babys nicht mehr gebären. Die Kinder wurden nicht erwachsen. Die Mädchen blieben zu jung, um sich zu verlieben. Die Söhne warteten vergebens auf den Tag, an dem sie ihren Vätern nachfolgten. Die Alten schleppten sich durch ein mühsam gewordenes Dasein.
Die Menschen sehnten sich nach einem Leben, in dem Veränderung und Wandel möglich war. Mit dem Stillstand der Zeit gab es keinen Anfang und kein Ende mehr. Es war ein Leben ohne Ängste. Aber es war auch ein Leben ohne Träume. Denn alles blieb, wie es schon immer gewesen war.
Die Menschen errichteten der Zeit prächtige Altäre zu ihrem Gedenken und stimmten feierliche Gesänge an. Inbrünstig beteten sie für ihr Wiedererwachen. Als die Zeit stillstand, wurde den Menschen bewusst, dass die Schönheit des Lebens im Kreislauf von Werden und Vergehen lag. Mit der Rückkehr der Zeit verbanden sie die Hoffnung, das verlorene Paradies wieder zu finden.
Lange warteten die Menschen vergebens, bis eines Tages das Wunder geschah. Die Baumstämme, die das Uhrwerk der Zeit blockierten, hielten dem Druck der Zahnräder nicht länger stand. Abermals wurde die Welt von einem Donnern, Krachen und Rumoren erschüttert, als sich das Räderwerk der Zeit, von denen das kleinste Rad so groß wie ein Wolkenkratzer war, langsam in Bewegung setzte.
Im Lärm der zersplitternden Baumstämme kehrte die Zeit zurück. In der ganzen Welt fielen sich die Menschen in die Arme. Sie lachten und weinten vor Freude. Die Gebärenden lagen glücklich den Wehen. Die Kinder wuchsen wieder aus ihren Schuhen. Die Mädchen wurden alt genug, um sich zu verlieben. Die Söhne stiegen in die Fußstapfen ihrer Väter. Die Alten und Kranken fanden Erlösung und Frieden.
Die Menschen nahmen das Wunder dankbar an. Wieder wurde eine Versammlung einberufen. Es wurden Reden gehalten. Es wurden Beschlüsse gefasst. Am Ende schickte man Boten aus, um die Rückkehr der Zeit zu verkünden. Die besten Mineure wurden herangebracht, um den Zugang zu der Höhle, in der sich das Uhrwerk der Zeit befand, zu sprengen. Als ihre Arbeit getan war, blendete man ihre Augen, um zu verhindern, dass sie ihr Geheimnis verrieten. Die Kartografen vernichteten alle Karten, die den Weg zum Räderwerk der Zeit wiesen. Und die Schreiber strichen das Kapitel aus den Geschichtsbüchern, um die Erinnerung daran auszulöschen. Nie wieder sollte die Zeit stillstehen und alles so bleiben, wie es schon immer gewesen war.