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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Vor meinen Augen wurden Bilder und Begebenheiten lebendig, die ich längst vergessen hatte. Ob sie in allen Einzelheiten meiner eigenen Erinnerungen  entsprachen oder sie mir eine Stimme in dieser Nacht ins Ohr flüsterte, vermag ich nicht zu sagen. Aber die Fantasie in meinem Kopf hätte niemals ausgereicht, mir all das selbst auszudenken.

Die nachfolgenden Seiten sind nicht dafür gedacht, die hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen davon zu überzeugen, dass sich wirklich alles so zugetragen hat. Ich habe sie für alle anderen zu Papier gebracht.

Für alle, die nachts wach liegen und sich die Zeit zurück wünschen, in der ihre Zunge ein übermütiges Zirkuspferd sein durfte.
Für alle, deren Mutter jeden Morgen die Welt zum Strahlen bringt.
Für alle, die einen Vater haben, der für die wichtigsten Schraubarbeiten der Welt zuständig ist.

Für alle, bei denen die wahre Natur der Großmutter anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint.
Für alle, die eine solche Mutter, Vater oder Großmutter werden wollen.
Für alle, die bei einem Blick in den Spiegel dem schlimmsten aller Feinde begegnet sind. Für alle, die ihn bezwungen haben.

Für alle, die davon träumen, eine Zeitabkürzungsmaschine zu bauen, um die Fliegenzeitrechnung zu besiegen. Für alle, die eine solche Maschine besitzen.
Für alle, die wissen, dass der Zufall die Welt beherrscht. Für alle, die ihn trotzdem nicht fürchten.
Für alle, die wissen wollen, wie es den Motoren gelungen ist, die wahre Geschwindigkeit der Welt unsichtbar zu machen.

Für alle, die sich nach der Zeit zurücksehnen, als die Landschaft stillstand, wenn man aus dem Fenster blickte.       
Für alle, die bei einem Blick auf die Uhr den hinkenden Zwerg entdecken, der sich langsam im Kreis dreht und vor dem es trotzdem kein Entkommen gibt.
Für alle, die den Zauber lernen wollen, der alle Geschichten erzählt, ohne ein Wort zu vergessen. Für alle, die diesen Zauber bereits beherrschen.

Für alle, die das Geheimnis kennen, wie die Farbe in die Welt gekommen ist. Für alle, die beitragen, sie ein bisschen bunter zu machen.
Für alle, die ein schlimmes Unglück getroffen hat und nichts so geblieben ist, wie es war. Für alle, die trotzdem ihre Zuversicht nicht verloren haben.
Für alle, die davon träumen, eines Tages eine Geschichte zu sein, die um die Welt reist.

Für alle, die Bücher lieben.

Die Liste ließe sich unendlich lang fortsetzen. Vielleicht klingt vieles tatsächlich zu fantastisch, um wahr zu sein.   

Ich behaupte nicht, dass sich in jener Nacht alles genauso abgespielt hat. Ich weiß nur, dass es drei Arten von Geschichten gibt. Geschichten, die tatsächlich passiert sind.  Geschichten, die wahrscheinlich klingen. Und Geschichten, die sich so unglaublich anhören, dass sie niemand für möglich hält.

Das Urteil darüber, in welche Kategorie die Geschichte fällt, die durch das offene Fenster in mein Schlafzimmer stieg und sich an meine Bettkante setzte, überlasse ich anderen.

Als ich ein Kind war, träumte ich davon, eines Tages mit eigenen Augen zu sehen, was die Geschichten sehen. 

Die Stimme, die mich nachts aus dem Schlaf flüsterte, hat meine Sehnsucht erfüllt. Sie hat meine Suche mit der Freude belohnt, die in jedem Finden innewohnt.

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