Das Leben der Steine

Nachdenklich blickte das Mädchen die Großmutter an. Ihr Gesicht trug die Spuren eines langen Lebens. Die fahle Haut war von dicken Furchen durchzogen. Zum ersten Mal wurde dem Mädchen bewusst, auf welche Weise die Menschen aus der Welt verschwanden. Der Zahn der Zeit zermahlte sie langsam bei lebendigem Leib.

Bei dem Gedanken, dass der Abschied von ihrer Großmutter näher rückte, spürte das Mädchen einen unbekannten Schmerz in ihrer Seele. Er fühlte sich an, wie ein riesiger Felsblock, der gegen ihre Brust drückte.

Unvermittelt kam ihr der Steinhaufen in den Sinn, der im Garten hinter dem Haus lag. Die Steine mussten nicht fürchten, aus der Welt zu verschwinden. Für sie spielte es keine Rolle, wie alt sie waren. Ihnen schlug keine Stunde. Ihre Zeit schien endlos zu sein.

<Warum leben die Steine ewig und die Menschen so kurz?>, platzte es aus ihr heraus. Es wollte dem Mädchen nicht in den Kopf gehen, warum ihrer Großmutter nicht die gleiche Zeit auf der Welt gegönnt war wie den Steinen.

Die Großmutter lächelte über diese Frage. <Die Steine führen ein anderes Leben als wir.>, sagte sie. <Sie sehen nicht das Licht der Sonne, die über ihnen strahlt. Sie ahnen nichts von der Weite des Horizonts und der Unendlichkeit des Himmels. Sie spüren nicht den Regen, der aus den Wolken auf sie fällt. Sie hören nicht den Wind, der in den Bäumen rauscht. Aber wenn sie von der Schönheit der Welt wüssten, würden sie ihr langes Leben gegen einen einzigen Augenblick von dir tauschen wollen.>

Das Mädchen sah die Großmutter mit großen Augen an. In ihrem Kopf funkte und blitzte es an tausend Stellen gleichzeitig. Die Steine lebten länger als die Menschen. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln. Aber ihr Dasein kannte keine Freude. Für sie blieb die Welt eine Ewigkeit lang ein dunkler Ort. Sie hatten keine Familie und keine Freunde. Sie feierten keine Geburtstage und keine anderen Feste. Sie hörten kein Lachen und kein Weinen. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, glücklich oder traurig zu sein.

Plötzlich bemitleidete das Mädchen die Steine für ihr Dasein. Keine Sekunde wollte sie mit ihnen tauschen. Es spielte keine Rolle, wie lange ein Leben dauerte. Es kam darauf an, was man daraus machte. Zufrieden strahlte sie ihre Großmutter an. <Das Leben ist schön kurz.<, sagte sie. Als sie ihre Stimme hörte, erschrak sie an ihren eigenen Worten. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.