Das Leben ist ein Traum

Mein Freund führt ein verrücktes Leben. Meist verbringt er die Nächte schreibend vor dem Computer. Er kaut dabei Kaugummi und trinkt Kaffee. Vor Mitternacht findet er keinen Schlaf. Bei Tagesanbruch schlüpft er in seine Laufschuhe und läuft in der Dunkelheit in den Morgen hinein. Nach der Dusche fährt er ins Büro. Abends telefoniert er stundenlang mit Stimmen, die ihm gefallen. An den Wochenenden erwartet er Besuch. Die Telefonnummern ändern sich ebenso oft wie die Kennzeichen der Wagen, die in seiner Einfahrt parken.
Wenn ich meinen Freund darauf anspreche, wiegelt er ab. Er habe beschlossen, sein Leben zu träumen. Leben sei die bessere Option, sage ich. Unsinn, fällt er mir ins Wort. Das Leben ließe nur einen Versuch zu. Im Traum habe er unzählige davon. Wenn er in einem scheitere, könne er aufwachen und ein neues beginnen.
Mein Freund träumt sich seine eigene Welt. Er balanciert durch sein Leben wie ein Seiltänzer auf einem dünnen Draht. Die Angst abzustürzen, ist ihm fern. Es gibt kein Netz unter ihm, warne ich ihn vor seinem Übermut. Mein Freund nippt lachend an seinem kalten Kaffee. Der Abgrund unter seinen Füßen jagt ihm keinen Schrecken mehr ein. Wenn er das Gleichgewicht verliert, würde er bloß in seinem Bett aufwachen, sagt er.
Vor einem Jahr hat mein Freund geliebt und geraucht. Dann hat er gelitten und getrunken. Am Ende bleiben nur noch die Flaschen und die Zigaretten. Aus heiterem Himmel gibt er das Trinken auf. Die Frauen sind den Rausch nicht wert, lautet seine Erkenntnis. Die übrig gebliebenen Flaschen entsorgt er. Sie sind auch das Feuer nicht wert, mache ich ihn auf den vollen Aschenbecher aufmerksam. Er nickt stumm. Dann wirft er seine letzte Zigarettenpackung in den Müll. Es ist der Tag, an dem er beschließt, sein Leben zu träumen.
Seither wechselt die Besetzung in seinen Träumen ständig. Mal wählt er eine dunkelhaarige Telefonnummer. Dann steht ein blonder Wagen in der Einfahrt. Neidisch beobachte ich, wie leicht ihm das Spiel von der Hand geht. Er verschwendet sich mit vollem Herz. Nie spart er etwas auf. Nie stolpert er über einen Zweifel. Seine Liebe ist jedes Mal echt. Wenn sie bei ihm sind, gehört er ihnen ganz. Sie können ihn bluten lassen. Sie können ihn quälen. Lächelnd nimmt er sie in die Arme. Die Liebe ist nur ein Versuch, flüstert er ihnen zärtlich ins Ohr. Und jeder Versuch ist ihm das Leben wert, das er träumt.
Mein Freund liebt die Frauen. Er brennt in ihrem Feuer. Aber wenn sie seiner müde werden, leidet er nicht. Er fürchtet den Abschied nicht mehr als ein Seiltänzer den nächsten Schritt auf einem dünnen Draht. Es war nur ein Versuch, denkt er, wenn er aus dem Gleichgewicht stürzt.
Am nächsten Morgen wacht er in seinem Bett auf. Er sucht keine Flasche, die ihn tröstet. Er raucht keine Zigaretten, um sich aus der Einsamkeit zu retten. Seelenruhig steigt er in seine Laufschuhe. Dann öffnet er die Tür und läuft in der Dunkelheit dem anbrechenden Tag entgegen.

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