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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Dabei streifte ihr Blick die neu verputzte Küchenwand, die in einem hellen Weiß leuchtete.  An einer Stelle zeichnete sich ein dunkler Schatten unter der frischen Farbe ab.

Unvermittelt tauchte vor den Augen des Fräulein „So-La-La“ das Foto auf, das bis vor wenigen Tagen dort hing. Es zeigte den Vater lachend an seinem Schreibtisch im Büro sitzen.    

Unzählige Male hatte das Fräulein „So-La-La“  die  Mutter ertappt, wie ihr Blick das Bild an der Wand streifte.
Die finstere Miene, die sich in ihrem Gesicht spiegelte, bildete einen scharfen Kontrast zu dem Lachen, mit dem der Vater in die Kamera blickte. 

Nun ging dem Fräulein „So-La-La“ ein Licht auf.
Die Mutter hatte das Geschirr nicht grundlos an der Küchenwand zerschlagen. Ihr Tellerkrieg hatte dem Bild gegolten.

Es rief ihr ständig ins Bewusstsein, dass das Lachen, mit dem der Vater an seinem Bürotisch posierte, nicht für sie gedacht war. Es verschwendete sich an jemandem, der unsichtbar im Raum schwebte.

„Eine neue Sekretärin ist immer gefährlich.“, riss sie die Stimme der Großmutter aus ihren Gedanken.  

Im gleichen Augenblick stürzte der Vater durch die offene Tür und goss sich ein Glas Rotwein ein, das er in einem Zug leertrank.

In den kommenden Wochen brachen für das Fräulein „So-La-La“ herrliche Zeiten an. Jeden Abend parkte der Wagen des Vaters pünktlich bei Sonnenuntergang in der Hauseinfahrt.

Die Arbeiten, die im Büro mit unaufschiebbarer Dringlichkeit auf ihn warteten, mussten sich fortan mit normalen Dienstzeiten begnügen. Wie von Zauberhand schrumpften die Aktenstöße, die sich in der Dachkammer auf dem Boden stapelten, zu einem winzigen Häufchen zusammen, bis sie nach einigen Monaten völlig verschwunden waren.   

Nur eines änderte sich nicht. Nach dem Abendessen  der Vater verschwand der Vater mit der Aktentasche in der Hand in seiner Dachkammer.  Allerdings blieb er nie länger an seinem Schreibtisch sitzen, als es dauerte, das schwerste Gewicht der Welt in den Himmel zu schrauben.

Zwischenspiel

Die Geschichte, die an meiner Bettkante saß, lachte, als könnte sie noch immer nicht glauben, dass ich einen kleinen Buchhalter für die wichtigsten Schraubarbeiten ausgewählt hatte.

„Er ist mir jeden Tag im Spiegel begegnet. Ich hatte keine andere Wahl.“  entschuldigte ich meine Entscheidung, ihm das schwerste Gewicht der Welt anzuvertrauen.

„Ich weiß.“, antwortete die Geschichte, ohne eine Miene zu verziehen.

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