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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Warum der Wind weht

Ich zog ein Blatt aus dem  Stoß und reichte es der Geschichte hinüber, die an meiner Bettkante saß, hinüber.  Sie warf einen kurzen Blick darauf. Dann drehte sie sich nach dem Fenster um,  als würde sie nach dem Wind lauschen.  Aber er machte in dieser Nacht keinen Mucks. 

„Der Wind flog nicht immer um die Welt.”, sagte sie.
„Am Anfang der Zeit stand er still und führte ein beschauliches Leben in einem Haus mit einem kleinen Vorgarten. Vom Himmel schien nur die Sonne auf ihn herab. Eines Tages tauchte eine Wolke über dem Haus auf.

„Woher kommst du?“, begrüßte der Wind den unerwarteten Gast.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete die Wolke.
„Als morgens die Sonne aufging, stand ich plötzlich über deinem Haus.“
„Du kannst mir Gesellschaft leisten.“, lud der Wind die Wolke zum Bleiben ein.

Die Wolke nahm die Einladung gerne an. Da der Wind still stand, konnte sie ohnehin nicht fort.
Zwischen den beiden entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Jeden Morgen trat der Wind aus dem Haus und grüßte die Wolke. Jeden Morgen grüßte die Wolke zurück.

Eines Tages gerieten sie aus nichtigem Anlass in Streit.

„Geh mir aus der Sonne.“, herrschte der Wind die Wolke an.

„Nichts, was ich lieber tun würde.“, zischte die Wolke zurück und färbte sich zu einer dunklen Gewitterfront.

Da verlor der Wind die Geduld und brauste zu einem gewaltigen Sturm auf, der die Wolke fortblies.

„Endlich verdunkelt ihr Schatten nicht mehr meinen Garten.“, brummte der Wind und schloss missmutig die Tür.“

Aber bereits am nächsten Tag bereute er seine Unbeherrschtheit. Ohne die Wolke hatte er niemanden, den er morgens grüßen konnte. Und es gab keinen, der seinen Gruß erwiderte.

„Wo ist sie hingeflogen?“, fragte der Wind die Sonne, die den Streit aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.
„Dein Sturm hat sie nach Westen getrieben.“, antwortete die Sonne gleichmütig.

Wortlos ging der Wind in sein Haus zurück. Nach wenigen Minuten kam er mit einem Koffer in der Hand wieder heraus. Er sperrte die Haustür ab und verriegelte alle Fenster. Dann erhob er sich in die Luft und flog der Wolke nach Westen hinterher. Seither weht der Wind in der Welt.“

Die Antwort auf die Frage, ob der Wind seine Wolke wieder gefunden hat, blieb mir die Geschichte, die an meiner Bettkante saß, schuldig.

“Das wissen nur der Wind und die Wolke.“,  lächelte sie.

“Aber solange der Wind in der Welt weht und die Wolken am Himmel ziehen, besteht die Hoffnung, dass sie sich eines Tages wieder begegnen.“

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