Die Geschichte vom Opa – Teil 3

Mein Opa kannte das Wort Zivilcourage nicht. Aber er war ein Mann, der auch in dunklen Zeiten seinen Charakter bewahrte und den Mut besaß, eigene Entscheidungen zu treffen. Vielleicht hat er die Geschichte, die er mir als Kind erzählte, nur erfunden. Aber je älter ich werde, desto mehr schenke ich seinen Worten Vertrauen. In vielen Dingen ist er dadurch zu meinem Vorbild geworden.

Mein Opa hat im Krieg auf deutscher Seite gedient und den Russlandfeldzug hautnah erlebt. Als das Kriegsglück die Seiten wechselte, kamen ihm wie vielen anderen Zweifel, ob sich der geforderte Heldentod lohnte oder er nur als Kanonenfutter in einem sinnlosen Gemetzel geopfert werden sollte.

Die deutschen Truppen waren noch nicht endgültig auf dem Rückzug, als mein Opa zu einer Lagebesprechung einberufen wurde. Die Fronten hatten sich bereits festgefahren. Kleinen Gebietsgewinnen auf deutscher Seite folgten verlustreiche Rückzugsgefechte.

Der Hauptmann, der die Besprechung leitete, war neu in dem Frontabschnitt, in dem mein Opa das Kommando über einige Dutzend Soldaten führte. Der Hauptmann war entschlossen, seinen Namen im Kriegstagebuch der Wehrmacht zu verewigen. Zu diesem Zweck erteilte er den Befehl zu einer regionalen Offensive. Meinem Opa kam die Aufgabe zuteil, ein russisches Dorf zu erobern.

Die russischen Dörfer bestanden zumeist aus wenigen Häusern, die mitten in der Steppe standen. Meist waren sie von endlosen Feldern umgeben, die wenig Deckung boten. Den Angreifern blieb nur die Wahl, direkt in die Schusslinie der Verteidiger zu laufen und zu hoffen, dass der Kugelhagel sie verfehlte.

Als mein Opa zu seinen Männern zurückkehrte, wusste er, dass er für viele das Todesurteil mitbrachte. Die nächste Ortschaft war von starken russischen Verbänden besetzt. Der Angriff war bei Morgenanbruch geplant. Der Hauptmann hatte sich ausbedungen, das Gemetzel hautnah mitzuerleben.

In der Nacht fand mein Opa keinen Schlaf. Gegen 2 Uhr früh stand er auf. In aller Eile zog er sich aus dem Dorf, in dem er mit seinen Männern Quartier genommen hatte, zurück. Dabei achtete er darauf, dass keinerlei Licht den russischen Spähern den Rückzug verriet.

Als der Hauptmann bei Sonnenaufgang den Frontabschnitt aus schusssicherer Entfernung mit dem Feldstecher beobachtete, wurde er Zeuge wie ein deutscher Stoßtrupp im Handstreich das russische Dorf eroberte, das mein Opa in der Nacht zuvor räumen lassen hatte. Die russischen Verteidiger schienen im Schlaf überrascht worden zu sein. Sie zeigten keinerlei Gegenwehr.

Auf deutscher Seite zählte man lediglich zwei verletzte Soldaten, die von den Splittern einer zu kurz geworfenen Handgranate getroffen wurden. Der Hauptmann war zufrieden. Mein Opa bekam für seine Tapferkeit einen Orden verliehen.

Ich habe nie herausgefunden, ob die Eroberung eines winzigen russischen Dorfes am 4.10.1942 den Eintrag ins Kriegstagesbuch der Wehrmacht geschafft hat.