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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Das Fräulein  „So-La-La“ verdrehte kurz den Hals, als die Großmutter das Zimmer betrat.  
Sie hatte gerade begonnen, die Watte aus einer Puppe zu ziehen.  Ungerührt setzte sie ihre schaurige Arbeit an.

Die Großmutter nahm auf der Bettkante Platz. Ihr Blick streifte durch den Raum. Unzählige Augen starrten sie hilfesuchend an. 

Noch waren nicht alle Puppen der grausamen Fürsorge ihrer Besitzerin zum Opfer gefallen.
Einige hatte es geschafft, sich unter das Bett zu retten. Andere waren als Buchstützen in den Regalen untergetaucht.       

Die größten Verluste hatten  die Stoffpuppen beklagen. Von ihnen waren nur ein kleines Grüppchen übrig geblieben, dass ängstlich zusammendrückte.

„Bleibt die Frage, warum du ein Herz in ihnen suchst?“, unterbrach die Großmutter ihr Schweigen.

„Dann msus ich mienen Gednaken nicht beim Rdeen zuhröen.“, lautete die trotzige Antwort.  

Das Fräulein „So-La-La“  fürchtete die Nächte nicht. Vor der Dunkelheit konnte man  fliehen.  Man musste nur die Augen schließen. Schon war sie verschwunden.  Aber die Stille blieb. Sie hing bis zum Morgengrauen in Zimmer.  
Manchmal waren die Nächte so leise, dass sie ihre eigenen Gedanken reden hörte. Es bereitete dem Fräulein „So-La-La“ kein Vergnügen, die Puppen zu quälen. Aber die Suche nach einem Herzen, das ihre eigenen Gedanken übertönte, ließ ihr keine andere Wahl.

Ihrer Lieblingspuppe konnte sie alle Geheimnisse anvertrauen.  Was man ihr ins Ohr flüsterte, kam nie wieder ans Licht der Welt. Aber auch in ihr schlug kein Herz. Außerdem war sie eine Chinesin, wie das Etikett an ihrem Hals verriet. Und das machte die Sache noch hoffnungsloser

„Meine Zunge kann kein Chinesisch sprechen.“, beantwortete sie die Frage der Großmutter, warum ihre alte Puppe bisher von der grausamen Prozedur verschont geblieben war.

Ihr einzige Hoffnung war es gewesen, ein Herz in einer der alten Puppen ihrer Mutter zu finden.

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