Marathon

Eines Morgens vermisse ich meinen Freund im Badezimmer. Ratlos blicke ich in den leeren Spiegel. Nach einer kurzen Schrecksekunde mache ich mich auf die Suche. Im Halbschlaf schleppe ich mich die Treppe in die Küche hinunter.
Auf dem Weg durch das Vorzimmer öffnet sich die Haustür. Der Vermisstenfall im Badezimmer klärt sich auf. Mein Freund scheint seine Schlaflosigkeit für einen Morgenspaziergang genutzt zu haben. Ich mustere ihn von Kopf bis Fuß. Er trägt bunte Unterwäsche. Schweißperlen tropfen ihm von der Stirn. Seine Haare sind nass geschwitzt.
Mein Blick wandert zum Fenster. Es ist März. Die Temperaturen liegen knapp über Null.
<In dieser Aufmachung sich frühmorgens auf die Straße zu wagen, birgt ein Risiko.>, überziehe ich ihn mit Spott. <Entweder holt man sich die Polizei oder den Tod ins Haus.>
Mein Freund zieht eine verächtliche Miene. <Der Tod kommt auch im Schlaf.>, brummt er zurück.
<Er müsste ein Frühaufsteher sein.>, halte ich dagegen und deute auf die Uhr, die im Vorzimmer an der Wand hängt. Die Zeiger stehen auf sechs Uhr morgens.
Wortlos verzieht sich mein Freund ins Wohnzimmer. Ich folge seinem Schweißgeruch.
Eine Tasse Kaffee treibt mir die Müdigkeit aus dem Kopf.
Er habe nachgedacht und sich entschieden, einen Marathon zu wagen, erklärt mir mein Freund seinen morgendlichen Ausflug.
Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen hoch. Die Einsamkeit in seiner Badewanne scheint an meinen Freund nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Seine Frauengeschichten haben nachgelassen. Er büßt für seine Nachlässigkeit. Frauen schlafen nicht gerne in alten Wannen.
Das Leben sei kurz, reißt mich mein Freund aus meinen Gedanken. Aber es würde in seinen Herausforderungen einem Marathon über 42 Kilometer gleichen.
Ich finde den Augenblick günstig, seine Unterwäsche genauer in Augenschein zu nehmen. Die Erklärung findet sich in den Laufschuhen an seinen Füßen.
<In einem Marathon spiegelt sich das Leben.>, lässt er sich von meinen skeptischen Blicken nicht aus der Ruhe bringen. <Am Anfang der Strecke erscheint es einfach, über die Distanz zu kommen. Man spürt die unbändige Kraft in sich. Man steigert das Tempo, um schneller voranzukommen. Man neigt zu Übertreibungen. Nach 25 Kilometer bemerkt man, dass die Beine langsam schwer werden. Nun zeigt sich, ob man sich die Strecke nicht richtig eingeteilt hat. Sonst büßt man im zweiten Teil für seinen Fehler.>
Ich beginne nachdenklich zu werden. Langsam begreife ich, was es mit der plötzlichen Begeisterung meines Freundes für den Marathon auf sich hat. Ich habe mich früher selbst an dieser Distanz versucht. Einige Male hat mich mein Ehrgeiz auf halber Wegstrecke verbrannt. Nach dreißig Kilometer schmerzte jeder Schritt höllisch. Die Beine begannen zu streiken. Ein stechender Schmerz in der Bauchgegend zwang mich, das Tempo zurückzunehmen.
Ich war schmal wie ein dünnes Brett und schleppte mich über die Straße, als drückte das Gewicht des Himmels gegen meine Schultern. Der Wille im Kopf ließ langsam nach. Es fiel schwer, der Versuchung zu widerstehen, am Straßenrand stehenzubleiben. Mit anderen Schritt zu halten, gelang nicht mehr. Humpelnd schleppte ich mich der Ziellinie entgegen.
Vielleicht hat mein Freund recht. Vielleicht steht ein Menschenleben in gewisser Weise für einen Marathon. Auf den Durchschnitt gerechnet wird ein Mensch 84 Jahre alt. So kommen auf jeden Kilometer im Marathon zwei Lebensjahre.
Die Gefahr, das man vorzeitig aus dem Rennen fällt, ist bei jedem Schritt gegeben. Aber das Risiko bleibt überschaubar. Das richtige Rennen beginnt erst auf Kilometer 25. Vorher ist man jung. Man fühlt die Kraft. Der Ehrgeiz, die ganze Welt zu überholen, treibt einen an. Beim Blick auf die Uhr spürt man die Ungeduld in sich. Es geht zu langsam voran. Und die Distanz, die vor einem liegt, scheint unermesslich lang. Die Augen sind nach vorne gerichtet. Man schenkt den Dingen am Straßenrand keine Beachtung. Man läuft schneller, als einem gut tut. Nach und nach spürt man die Anstrengung. Auf Kilometer 25 schlägt aus dem Nichts eine Keule auf einen herab. Vergeblich versucht man ihren Hieben auszuweichen. Die zurückgelegte Distanz zehrt an den Kräften. Man spürt die Schmerzen in den Oberschenkeln. Das erste Mal hält man nach den Wegmarken auf der Strecke Ausschau. Schlagartig wird einem bewusst, dass man scheitern könnte, das Ziel zu erreichen.
<Er fühle sich gut auf dem Weg.>, holt mich mein Freund auf die Couch im Wohnzimmer zurück. Ich nehme mir die Zeit, sein Gesicht genauer in Augenschein zu nehmen. Die Anstrengung der bereits hinter ihm liegenden Strecke ist seinen Zügen deutlich anzusehen. Aber das Laufen scheint ihm leicht zu fallen. Sein Wille ist ungebrochen. Das Leuchten in seinen Augen hält ihn auf Kurs.
Ich nicke ihm anerkennend zu.
<Nun gilt es durchzuhalten.>, sagt er. Er nähere sich der 30 Kilometermarke und fühle die Kraft in seinen Muskeln.
<Es liegen noch 12 Kilometer vor dir.>, rechne ich ihm vor.
<Es ist der schönste Teil der Strecke, wenn man in sein Tempo gefunden hat.>, sagt mein Freund.
Ich schließe die Augen und kehre auf meine eigene Strecke zurück. Ich atme regelmäßig. Ich spüre die Anstrengung in den Beinen. Langsam nehme ich das Tempo zurück. Ich genieße jeden Schritt, der mich vorwärts bringt. Die Wegmarken ziehen an mir vorbei. Ich zähle die Kilometer nicht mehr.
<Man will niemanden mehr einholen. Man spürt keinen Triumph, wenn man an jenen vorbei läuft, die zurückfallen.>, höre ich die Stimme meines Freundes im Kopf.
<Der Lauf fühlt sich anders an als zu Beginn. Man freut sich, einander zu begegnen und klopft sich auf die Schulter. Man spricht sich gegenseitig Mut zu, es bis ans Ende der Strecke zu schaffen.>
Ich stimme meinem Freund zu. Manchmal fühlt sich das Leben an wie ein Marathon. Ich bin schon lange unterwegs. Der größte Teil der Strecke liegt hinter mir. Bald passiere ich die 30 Kilometermarke.
Der Boden unter meinen Füßen verschwindet. Beinahe mühelos setze ich meine Schritte. Am Streckenrand zieht die Welt an mir vorbei. Die Freude, ein Teil davon zu sein, feuert mich an, weiterzulaufen.
Ich öffne die Augen und grinse meinen Freund an. <Wie fühlt man sich im Ziel?>, frage ich mit einem Augenzwinkern.
<Tot aber glücklich.>, antwortet er, ohne die Miene zu verziehen. Dann steht er von der Couch auf und verzieht sich ins Badezimmer. Ich rümpfe die Nase, als er mir vorbeigeht. Er hat eine Dusche dringend nötig.