Das Buch der Geschichten

Manege frei für die Geschichten im „Zirkus der Worte“.

Nachdenklich blickte das Mädchen die Großmutter an. Ihr Gesicht trug die Spuren eines langen Lebens. Die fahle Haut war von dicken Furchen durchzogen. Zum ersten Mal wurde dem Mädchen bewusst, auf welche Weise die Menschen aus der Welt verschwanden. Der Zahn der Zeit zermahlte sie langsam bei lebendigem Leib.

Nach einem Spaziergang drückte einem Mädchen der Fuß. <Autsch.>, schrie sie auf und sprang aus dem Schuh. In der Innenseite der Sohle entdeckte sie einen winzigen Kieselstein. Als sie ihn ausschütteln wollte, flehte sie eine Stimme an. <Wirf mich nicht weg.> <Warum sollte ich dich behalten wollen?>, schnauzte das Mädchen den Kieselstein an. <Du hast mir weh getan.>

Eine Geschichte, die beweist, dass die Macht der Tyrannen begrenzt ist. Die Träume der Menschen sind uneinnehmbar wie das Schloss in den Wolken. TEIL 2 von 2

Eine Geschichte, die beweist, dass die Macht der Tyrannen begrenzt ist. Die Träume der Menschen sind uneinnehmbar wie das Schloss in den Wolken. TEIL 1 von 2

Eines gleich vorweg um jeden Zweifel auszuräumen. Diese Geschichte steht nicht in den Geschichtsbüchern. Das bedeutet nicht, dass sie niemals passiert ist. Manchmal liest man über sie im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Leider geschieht es viel zu selten. Ich habe sie für die Unternehmensberater und Konzernführer aufgeschrieben. Meine Hoffnung unter ihnen Gehör zu finden, ist gering.

Manchmal denke ich noch daran. Aber die Erinnerung verschwimmt bereits. Wir haben gemeinsam durchgehalten. Ein Wunsch bleibt. Mögen diese Tage nicht wiederkehren.

In uralten Zeiten entdeckten die Menschen das Uhrwerk der Zeit tief im Inneren einer Höhle. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Eilig wurde eine Versammlung einberufen. Aus allen Erdteilen der Welt kamen die Völker und Stämme zusammen. Es wurden Reden gehalten. Es wurden Beschlüsse gefasst. Am Ende machten sich Boten in alle Windrichtungen auf, um das Ende der Zeit zu verkünden.

Von allen Geschichten, die erzählt werden, ist die Geschichte der Zeit die aller seltsamste. Sie verstreicht in Sekunden, Minuten und Stunden. In Tagen, Wochen und Jahren. Sie vergeht in den Jahreszeiten, Kalenderblättern und Küchenuhren. In den Zeitungen, Büchern und Geschichten. Aber am allermeisten vergeht die Zeit in den Gesichtern der Menschen.

Die wahre Größe eines Menschen offenbart sich erst dann, wenn man ihn aus den Augen verloren hat. Die Verlockungen der Welt sind vielfältig und die Ablenkung fällt leicht. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man zurückblickt. Und manchmal ist man über die Größe der Lücke erstaunt, die jemand zurückgelassen hat.

Als Kind war ich mutiger, als ich es heute bin. Ich maß die Gefahr nach der Größe der Dinge. Manchmal erschrak ich mich an der Unendlichkeit des Himmels, an der Weite des Horizonts und der Dunkelheit der Nacht. Aber ich fürchtete nichts, das sich kleiner anfühlte, als ich es war. Und nichts fühlte sich kleiner an als die Zeit.

Die Nacht war sternenhell, als der Tod auf das Dach kletterte. Der Vollmond versprach ihm einen leichten Fang. Seine Beute stand nur einen Schritt von ihm entfernt im offenen Fenster. Ein letzter Atemzug. Ein letzter Gedanke. Dann würde sie in seinem Mahlwerk verschwinden.

Gott hat den Menschen die Welt geschenkt. Der Teufel hat ihnen das Rechenrad gegeben, um ihren Wert zu bestimmen. Seither zieht der Hunger nach Macht und Besitz seine blutige Spur. Es gibt nur einen Ausweg dagegen. Diese Geschichte erzählt davon.

Der Krieg ist diesen Tagen aktueller denn je. Die Zuversicht, das er eines Tages wieder endet auch. Sie hat sich bisher immer erfüllt.

Diese Ostergeschichte ist anders. Bei Josef und Maria läuft es nicht mehr rund. Der gemeinsame Sohn sorgt für Ärger. Vom Schulabbrecher hat er sich zum Herumtreiber entwickelt. Maria glaubt unerschütterlich an ihn. Josef schwant dagegen Übles. Seiner Vorahnung verdanken wir es, dass die Hasen zu Ostern die Eier in die Nester legen. Habt Spaß damit. Frohe Ostern.

Man sah es ihr nicht sofort an. Ihre Figur war tadellos. Nur im Gesicht wirkte sie etwas schmal. Das schwarze Loch forderte nicht immer seinen Tribut. Es war geduldiger als bei anderen. Manchmal blieb es über Tage stumm.

Den blutigsten Teil seines Lebens verbrachte mein Opa im Krieg. Er haderte nicht wie andere damit, in einem verlorenen Krieg gekämpft zu haben. Vielmehr litt er darunter, was der Lärm der Maschinengewehre aus den Menschen machte.

Mein Opa kannte das Wort Zivilcourage nicht. Aber er war ein Mann, der auch in dunklen Zeiten seinen Charakter bewahrte und den Mut besaß, eigene Entscheidungen zu treffen.

Mein Opa war ein Held. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dies selbst von sich zu behaupten. Ebenso wenig wie er darauf bestanden hätte, seine Pflicht erfüllt zu haben. Es blieb ihm wie den meisten anderen seiner Generation keine andere Wahl.

Mein Opa hat sich eine Hommage verdient. Es ist eine späte Wiedergutmachung. Wir waren zu seinen Lebzeiten keine Freunde. Heute verstehe ich, warum er keine Freude mit mir hatte.

Es steht nicht überliefert, an welchem Ort der Welt sich der Wicht und der Tiger über den Weg liefen. Aber dass sie sich begegnet sind, steht außer Zweifel. Denn über die Folgen dieses unglückseligen Aufeinandertreffens liest man täglich in den Schlagzeilen.

<Vielleicht sind wir eine Geschichte, die in einem Buch steht.>, sagte der Bär. <Warum sollten wir das sein?> lachte der Drache. <Weil es sonst keine Erklärung dafür gibt.>, antwortete der Bär.

<Heute löscht das Trinken nicht mein Feuer.> sagte der Drache und deutete auf das leere Glas in seiner Hand. Der Bär grinste verschämt. <Ich verbrenne gerne.> antwortete er.

Der Wind wehte nicht immer um die Welt. Am Anfang der Zeit stand er still und wohnte in einem Haus mit einem kleinen Vorgarten. Er führte ein beschauliches Leben. Meist saß er in seinem Wohnzimmer auf einem Stuhl und begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken.

Worte können alles sein. Aber sie bedeuten nichts, wenn es Worte bleiben. Wer die Geschichte liest, wird wissen, dass es sich lohnt, sein Herz bis ans Ende der Welt zu tragen.

Der Bär und der Drache begegnen sich wieder.

Der Bär und der Drache erzählt keine Tiergeschichte. Sie schildert die Begegnung von zwei Menschen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen.

Ein Pfau stand nachts an einem Teich und berauschte sich an seiner Pracht. Eitel entfaltete er sein Federkleid. Seine Schönheit rührte den Weiher zu einem verliebten Rauschen.

Endlich klärt sich auf, wie Jesus zu seinem Namen gekommen ist. Habt Spaß damit.

Als die Oma starb, war ich bereits ein Mann. Ich war 48. Sie war 95. Aber an ihrem Sterbebett im Spital hockte wieder der kleine Junge von früher. Wenn ich mich als Kind in Not fühlte, wünschte ich mir einen Riesen an meine Seite, der mich rettete.

Ich muss oft an meine Oma denken. Das Weihnachten in meiner Kindheit hatte immer mit ihr zu tun. Zuerst kam das Christkind. Dann kam das Neue Jahr. Und dann kam der Geburtstag der Oma.

Die Oma zog sich ihr Leben lang wie ein breiter Fluss durch die Familie. Ihre Kinder und Enkelkinder waren seine Ufer.

Eine Geschichte für alle, die auf der Suche nach der großen Liebe sind. Für alle, die glauben, sie noch nicht gefunden zu haben.

Die Bühne der Macht liebt keine unbequemen Zwischenrufe. Schon gar nicht will sie beim Abendessen gestört werden.

Das Leben ist voller Überraschungen. Manchmal bringt es einen dazu, etwas zu mögen, das man nie zu vermissen glaubte. Weil es einfach da ist. Weil man sich daran gewöhnt. Weil es fehlen würde. Oder weil es einfach aus dem Himmel fällt.

Ich werde geimpft. Endlich. Ich kann den Stich in den Arm kaum erwarten. Der Euphorie folgt die Ernüchterung. Die Impfstraße eignet sich wenig für einen zügigen Durchzugsverkehr. Der Rückstau schafft Raum für Zweifel. In der Warteschlange brodeln beängstigende Gerüchte auf. Lohnt es sich wirklich, auf den letzten Metern der Pandemie sein Leben zu riskieren?

Ich bin ein Mensch, der zur Ordnung und Reinlichkeit neigt. Trotzdem eilt mir der Ruf voraus, in kleinen Dingen nachlässig zu sein. Ich brösle und kleckere gerne. Wenn ich morgens das Badezimmer verlasse, vergesse ich die Zahnpastatube zu verschließen. Nach dem Morgenkaffee stelle ich die Tasse nicht in den Abwasch. Manchmal lasse ich die offene Butter auf dem Frühstückstisch zurück. Die Vorhaltungen darüber lächle ich weg. Ich bin nachsichtig mit den Klägern. Denn sie kennen die Geschichte nicht.