Spielzeugkiste

Schlaftrunken quäle ich mich frühmorgens die Treppe aus meinem Schlafzimmer herunter. Im Wohnzimmer treffe ich meinen Freund mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa an. Er schlürft seinen Kaffee aus der Tasse und starrt die Wände an. Sein müdes Gesicht deutet auf einen nächtlichen Spieleabend hin. Ich verspüre wenig Lust, über einen seiner Buchstaben im Alphabet zu stolpern. <Ist das Badezimmer belegt?>, frage ich vorsichtshalber. Er nickt. Ich blicke ihn neidvoll an. Seine alte Wanne findet immer noch Zuspruch.

Meine Bewunderung findet wenig Widerhall. Ihm drohe die Arbeitslosigkeit, lädt mein Freund seinen Frust bei mir ab. Er fühle sich nicht mehr gebraucht. Die Erschütterung ist ihm an den dicken Tränensäcken abzulesen. Seine Nutzlosigkeit wäre ihm letzte Nacht in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden, offenbart er seinen Schmerz. Ich sehe ihn ratlos an. <Was ist passiert?>, frage ich. Mein Freund deutet mit der Hand auf den Wohnzimmertisch. Ich blicke auf ein schwungvoll gebogenes Elektrogerät. Es erinnert an eine Zahnbürste. <Sechs Mal in zwanzig Minuten.>, erklärt er mir wehleidig. Ich überschlage die Rechnung im Kopf. Kann sich ausgehen. <Aber welchen Sinn hat es, sich sechs Mal hintereinander die Zähne zu putzen?>, frage ich.

Das lautstarke Gelächter meines Freundes übertönt das Mahlwerk der Kaffeemaschine. Es sei keine Zahnbürste, lässt er mich meine Ahnungslosigkeit spüren. Dabei streckt seinen rechten Zeigefinger aus und lässt ihn in der Luft vibrieren. Ich nehme das Gerät genauer in Augenschein. Langsam dämmert mir sein wahrer Zweck. Es lasse sich punktgenau ansetzen, verrät mein Freund.

Ich nehme die Kaffeetasse aus der Maschine und setze mich zu ihm. Mein Freund lehnt seinen Kopf an meine Schulter. Manchmal schafft Nähe Trost. Er sei es leid, sich schweißtreibend für etwas abzumühen, das ein Tastendruck in drei Minuten erledigt, suhlt er sich in seinem Schmerz. <Gegen die Effizienz der Batterie versagt die Natur.>, gesteht er resigniert ein. Immerhin sei ihm am Schluss der Ehrentreffer gelungen. <Sechs zu eins. Hört sich nach einem Debakel an.>, lache ich. Mein Freund verzieht keine Miene. Der Ernst der Lage ist zu groß. <Die weiteren Spiele lassen kein besseres Ergebnis erwarten.>, malt er sich die Zukunft schwarz.  Maximal könne er den Führungstreffer erzielen. Aber es würde nichts am weiteren Spielverlauf ändern. Die Überlegenheit ihrer Spielzeugkiste lasse keine Siege mehr zu. Ich ziehe neugierig die Augenbrauen in die Höhe. <Welche Spielzeugkiste?>, frage ich. Mein Freund bückt sich und zieht eine kleine Box unter dem Sofa hervor. Sie habe sie gestern mitgebracht, klärt er mich auf.  Staunend überblicke ich das Arsenal, das sich in der Box findet. Das Potenzial überwältigt mich.
<Wir sind ersetzbar geworden.>, wird mir schlagartig der Grund für meine eigene Durststrecke klar. Ich kämpfe auf verlorenem Posten. Die Übermacht ist zu groß.

Ein leises Bimmeln reißt mich aus der Starre. Dana, unser persischer Prinz ist wach. Das Glöckchen um seinen Hals verrät die nahe Ankunft des Katers.  Leichtfüßig tapst er durch die Tür ins Wohnzimmer. Mit aufgestelltem Schwanz streicht er um unsere Beine. Der Schrecken ist unseren Gesichtern abzulesen. Beide denken wir das Gleiche. Wir ziehen auch da den kürzeren. In unserer Männer-WG scheinen schwere Zeiten anzubrechen.

In meiner Verzweiflung streichle ich dem Stubentiger mit der Hand über das Fell.  Augenblicklich wirft er sich auf den Rücken und verfällt in ein hemmungsloses Schnurren. Mein Freund beobachtet das Geschehen. Mit der Dauer der Streicheleinheiten hellt sich sein Gesicht auf. <Es ist Zeit für einen Strategiewechsel.>, gerät er unerwartet in Euphorie. <Wir müssen unseren Händen das Tanzen beibringen.>. Ich blicke ihn ratlos an.  Er ist kein großer Tänzer. Der Takt liegt ihm nicht im Blut.
Derlei Einwände lässt mein Freund nicht gelten. <Das Spielzeug beherrscht keine Berührungen>, sagt er. Gegen Finger, die es verstehen, auf nackter Haut zu tanzen, lasse sich das verlorene Terrain vielleicht wieder zurück gewinnen, zeigt er sich siegesgewiss. Die Grundschritte beherrsche er bereits. Um die seelenlose Mechanik der Spielzeuge zu besiegen, müsse man die Technik der Finger zur Perfektion bringen. <Wie soll das gehen?> frage ich ihn. <Wir sollten sie in einen Tanzkurs schicken.>, antwortet mein Freund wie aus der Pistole geschossen.  Ein solches Kursangebot sei mir noch nicht untergekommen, widerspreche ich ihm.  Mit einer Handbewegung wischt mein Freund meine Skepsis beiseite.  Er kenne eine gute Tanzlehrerin. Sie nehme gerade im Badezimmer eine Dusche und stünde für Tanzstunden zur Verfügung.

Der persische Prinz zu unseren Füßen spitzt die Ohren. Schnurstracks springt er zu mir hoch. Mit gestrecktem Schwanz kuschelt er sich auf meinem Schoß. Hellhörig lauscht er den Ausführungen meines Freundes. Der Tanzkurs scheint auch auf sein Interesse zu stoßen.