
Wie das Fräulein „So-La-La“ unsichtbar wird
Vielleicht war es schlimm, nicht auf der Welt zu sein. Aber noch schrecklicher fühlte es sich an, auf der Welt zu sein und nicht bemerkt zu werden. Das Fräulein „So-La-La“ spürte am eigenen Leib, was es bedeutet, plötzlich unsichtbar zu sein.
Es traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung löste sie sich vor aller Augen in Luft auf.
Die Unsichtbarkeit zählte zu den heimtückischsten aller Krankheiten. Schon wenige Stunden nach der Ansteckung zeigten sich die ersten Symptome. Die Betroffenen wurden in den Cafés nicht mehr bedient. An den Supermarktkassen dauerte es Stunden, bis sie an die Reihe kamen. Und auf der Straße wurden sie ständig von wildfremden Leuten angerempelt.
Es brachte keine Erleichterung, sich bunte Kleider anzuziehen oder sich verrückte Hüte auf den Kopf zu setzen. Wen die Welt nicht bemerkte, vermisste sie auch nicht.
Die Krankheit betraf die Alten und Verlassenen, die in ihren Wohnungen vor den Fernsehapparaten saßen. An ihren Türen läutete kein Besuch mehr. Zu Weihnachten lagen keine Geschenke für sie unter dem Christbaum. An ihren Geburtstagen suchten sie vergeblich nach einer Glückwunschkarte im Briefkasten. Und wenn das Telefon läutete, hatte jemand die falsche Nummer gewählt.
Ihre Unsichtbarkeit wuchs über Monate und Jahre an. Bis eines Tages die Namensschilder an den Eingangstüren verschwanden und neue Mieter mit ihren Möbeln in die verlassenen Wohnungen einzogen.
Die Ärzte standen der Krankheit ratlos gegenüber. Mit Spritzen und Tabletten war sie nicht zu heilen. Auch die teuersten
Mikroskope gaben die Ursache nicht preis. Das Virus, das die Unsichtbarkeit auslöste, blieb wie seine Opfer unsichtbar.
Der Verlauf der Krankheit vollzog sich oft über Monate und Jahre schleichend. In vielen Fällen dauerte es Jahre, bis den Opfern ihr Leiden bewusst wurde. Meist war es zu spät, die Unsichtbarkeit aufzuhalten.