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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden, der ein letztes Mal zum Himmel hoch blickt, bevor die Wellen über ihn zusammenschlagen, streckte sie die Arme in die Höhe.  

 „Willst du mir die Augen auskratzen?“,  übertönte die entsetzte Stimme der Großmutter den lachenden Chor ihrer Spötter.

Mit einem Seufzer der Erleichterung schlang das Fräulein „So-La-La“ die Arme um den Hals der Großmutter. Sofort löste sich der Spuk in ihrem Kopf in Luft auf. Mit ihm verstummte auch der spöttische Singsang der hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen. Er wurde vom Glockenschlag einer mächtigen Kathedrale übertönt. Glückselig lauschte das Fräulein „So-La-La“ dem Herzen, das in der Brust von Oma Rosa schlug.
Sie mochte einen krummen Rücken und schwere Beine haben. Aber ihr Verstand arbeitete immer noch mit der Schärfe eines Rasiermessers. 

„Die Angst besitzt keine Zähne, mit denen sie zubeißen kann.“ Und es wachsen ihr keine Klauen, um zu kratzen.“, wies sie den Jäger, der das Fräulein „So-La-La“ verfolgte, in seine Schranken.

„Die Angst vermag ihre Opfer nur mit dem Schatten zu erschrecken, den sie wirft. Im Licht erweist sie sich meist als jämmerlicher Zwerg, der  niemandem ein Haar zu krümmen vermag. Weil sie um die  Lächerlichkeit ihrer Gestalt weiß, hält sie sich im Dunkeln verborgen.“

Das  Fräulein „So-La-La“  zögerte keinen Augenblick. Entschlossen ballte sie die rechte Hand zur Faust und richtete sie drohend gegen ihr eigenes Gesicht.

„Zieg dcih,  du  hniterlsitiger Gfitschalnge. “, forderte sie ihren Peiniger heraus.  

Die Antwort des Clowns, der in ihrem Mund sein Unwesen trieb, ließ nicht lange auf sich warten.  Unmissverständlich sandte er seiner Herausforderin die Botschaft, dass er keinesfalls bereit war, aus dem Schatten zu treten.

Mit gewohnter Boshaftigkeit schleuderte die Zunge den Satz in wilden Pirouetten zwischen den Zahnreihen herum, bis er sein kurzes Dasein in einem hilflosen Gestammel aushauchte.
Oma Rosa lächelte milde.

„Die Angst zu zähmen, gelingt niemandem auf den ersten Versuch.“,  tröstete sie die geschlagene Boxerin an ihrer Seite.

Eine dicke Wolke stieg aus ihrem Mund.  Das Wohnzimmer versank in einem rauchigen Nebel.

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