Himmelsstürmer

Mein Freund erzählt gerne Geschichten. Meist höre ich ihm schweigend zu. Manchmal bringt er mich zum Lachen. Manchmal schüttle ich den Kopf über seine verrückten Einfälle. <Geschichten sind wie Träume.>, sagt er. > In ihnen fühlt sich das Schwere leicht an.>

Mein Freund ist ein merkwürdiger Kauz. Er träumt sein Leben. Für ihn spielt es keine Rolle, ob ein Traum in Erfüllung geht. Es zählt der Versuch, ihn zu leben.>, sagt er.

Die Tage verbringt er meist allein im Badezimmer. Wenn ihm nach Gesellschaft zumute ist, besucht er mich. Ich spüle gerade das Geschirr in der Küche, als er durch die Tür stürmt. <Ich habe von einer Ameise geträumt.>, berichtet er mir atemlos. <Ich mag keine Ameisen im Haus.>, antworte ich. <Sie hat den Himmel berührt.>, sagt mein Freund. Ich blicke ihn genervt an. <Ameisen können nicht fliegen.>, knurre ich zurück.

Ich starre auf den Berg Geschirr, der sich in der Abwasch türmt. Eine Hilfe im Haushalt wäre mir lieber als ein Träumer im Badezimmer. Mein Freund hört mir nicht zu. Wenn er träumt, schaltet er mich offline. Er hat eine Ameise im Kopf. Ich trockne mir die Hände ab und setze mich auf einen Stuhl.

Die Ameise würde ihre Tage auf einem Grashalm und verbringen, erzählt er mir von ihr. Ihre Sehnsucht gilt der alten Eiche am Rand der Wiese, deren Äste in die Wolken hineinragen.

<Wie herrlich muss es sich anfühlen, den Himmel zu berühren.>, seufzt sie. Eines Tages fasst die Ameise einen Entschluss. <Der Himmel erwartet mich.>, schlägt sie alle Warnungen in den Wind und klettert den Stamm der knorrigen Eiche hoch. Der Aufstieg ist gefährlich. Je höher sie krabbelt, desto bedrohlicher schwanken die Äste im Wind. Bei jedem Sturm gerät sie in Gefahr, in die Tiefe zu stürzen. Aber keine Sekunde denkt sie daran, aufzugeben. Den Himmel zu umarmen, lohnt alle Mühe, fasst sie nach jedem Rückschlag neuen Mut.

Am Ende ihrer Kräfte erreicht die Ameise die Spitze des letzten Astes. Ihr Herz lacht vor Freude. Nie hatte sie sich dem Himmel näher gefühlt, als in diesem Augenblick. Erwartungsvoll streckt sie sich ihm entgegen. Im selben Moment fliegt ein Vogel aus dem Nest und pflückt sie mit seinem Schnabel vom Baum.

<Die Geschichte gefällt mir nicht.>, sage ich. Mein Freund blickt mich mit großen Augen an. <Warum?>, will er wissen. <Ich kann Ameisen nicht leiden.>, brumme ich zurück. Mein Freund zuckt mit den Schultern. <Was ist die bessere Entscheidung.> stellt er mich unvermittelt vor die Wahl. <Ein Leben lang am Anblick des Himmels zu leiden, der unerreichbar weit entfernt scheint? Oder das Unmögliche zu wagen und mit den Händen nach ihm zu greifen?>

Ich starre aus dem Fenster und denke nach. Wäre die Ameise auf ihrem Grashalm sitzen geblieben, hätte ihr Leben nicht im Schnabel eines hungrigen Vogels geendet. Aber dann wäre sie dem Himmel niemals so nahe gewesen.

Vielleicht hat mein Freund recht, denke ich. Vielleicht bin auch ich eine Ameise, die davon träumt, den Himmel zu umarmen.