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Die Reise des Fräulein „So-La-La“

Die Angst war eine tausendarmige Krake. Unersättlich streckte sie die Fänge nach ihrer Beute aus. Ihre Fallen waren überall. Einmal lauerte sie in einer dunklen Ecke auf ihr Opfer. Ein anderes Mal lachte sie es bei einem Blick in die Tiefe an oder sprang es bei dem Gedanken  an eine ungewisse Zukunft an. 
 
Die Angst kannte alle Verstecke und Zufluchten.  Sie war ein Meister der Maskerade.  Für jeden, dem sie nachstellte, verstand sie es, sich neu einzukleiden.
Der Schlaf war ihr liebstes Jagdgebiet. In den Träumen war auch der schärfste Verstand ihrer Folter wehrlos ausgeliefert. Die Unglücklichen, die es traf, verwandelten sich bis zum Morgengrauen in blasse Gespenster, denen  alle Zuversicht verloren ging.

Die Angst genoss das Elend, das sie auslöste und weidete sich an ihrer Unsichtbarkeit. Wer in ihre Gesellschaft geriet, blieb auf sich allein gestellt. 

Es existierte keinerlei Handhabe gegen sie. Man konnte sie nicht anzeigen oder von der Polizei verhaften lassen. Sie beugte  sich keinem  Richterspruch. Schon gar nicht ließ sie sich hinter Gitter sperren.

Das Fräulein „So-La-La“ spürte, wie eine eisige Hand in ihren Nacken griff und sie in ein dunkles Loch zog.  
Die Großmutter hatte ihr den wahren Feind gezeigt. Es war nicht der verrückte Clown in ihrem Mund.  Es war die Angst vor ihm.

Unter ihren Füßen tat sich ein bodenloser Abgrund auf. Ihre Augenlider flatterten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen auf und ab.

Aus der Tiefe erklang der höhnische Chor der hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen.

Es genügte der Angst nicht mehr, sie im Schlaf heimzusuchen. Sie quälte ihren Verstand auch am helllichten Tag. 

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