Schwarze Tage

Ich klicke mich am Handy durch die Bilder des letzten Jahres. Mein Freund zieht ein abschätziges Gesicht. Er mag keine eingefrorenen Augenblicke. Sie bedeuten ihm nicht mehr als der Blick auf eine stehengebliebene Uhr. Die Bilder würden die falsche Zeit anzeigen, sagt er. Tage, die von Jahren überrannt sind. Orte, die verlassen liegen. Kinder, die keine mehr sind. Lieben, die nicht mehr geliebt werden. Menschen, die für immer verschwunden sind

Ich lege genervt das Telefon zur Seite und überrede ihn zu einem Ausflug. Die Aprilsonne strahlt vom Himmel. Vogelgezwitscher schwirrt in der Luft. Ein Schmetterling umtänzelt die aufbrechenden Blüten in einem Kirschbaumgarten. Mein Freund jagt ihm mit sehnsüchtigen Blicken hinterher. Er beneide ihn um seine Leichtigkeit, seufzt er. Ein Schmetterling stolpert nicht über Erinnerungen. Wenn ein Sommer vorüber ist, weint er ihm nicht hinterher. Er vergisst ihn, wie er im Frühling den Winter vergessen hat

Mein Freund kann Erinnerungen nicht leiden. Es macht für ihn keinen Unterschied, ob sie gut oder schlecht sind. Sie quälen ihn als schwarze Tage. Tage, die nicht mehr sind. Tage, die es nicht mehr geben wird. In den harmlosen Fällen sind sie eine rasch vorüberziehende Karawane, die für eine Nacht Quartier nimmt. Am Morgen danach findet sich keine Spur mehr von ihnen. Allenfalls lassen sie eine kleine Narbe im Gedächtnis zurück

Das größte Übel bereiten die schwarzen Tage, die für immer sesshaft werden. Die Zeitungen sind voll von ihnen. Ohne ihr Zutun wären aus den Geschichtsbüchern keine dicken Wälzer geworden. Das Unglück dieser Tage liegt in ihrer Endgültigkeit. Der Schrecken, den sie verbreiten, lässt sich nicht mehr abschütteln. Sie treiben ihren Handel rund um die Uhr und kennen weder Öffnungszeiten noch Mittagspausen. Wer mit ihnen Geschäfte macht, leidet lange unter den Verlusten

Besäßen diese Tage ein Gesicht, wäre es griesgrämig. Hätten sie einen Charakter, wäre er von übler Natur. Gingen sie einer Arbeit nach, wäre es die eines Handelsreisenden für Schicksalsschläge und Unglücke aller Art. Und führten sie ein Geschäft, wäre es ein Trödelladen für versperrte Türen, verlassene Betten und verwaiste Stühle. Einer dieser Tage veränderte sein Leben für immer.

Es war der Tag, als er die Räume im Haus leer fand. Die Möbel sind inzwischen anders gestellt. An den Wänden hängen neue Bilder. Aber die Leere ist geblieben. Seither hängt ein Schatten in seinen Augen.

<Du solltest ihr Rosen schicken.>, sage ich. Er sieht mich ratlos an. <Welcher?>, fragt er. Er scheint den Überblick verloren zu haben. Es sind ihm schon zu viele durch die Finger geglitten.

<Der Richtigen.>, antworte ich.

Mein Freund beißt sich die Lippen schmal. Sein Blick wandert zu den Kirschbaumblüten zurück. <Sie leuchten schön wie damals.>, bricht es aus ihm heraus. Seine Augen flackern, als würde der Schmetterling in ihm mit den Flügeln flattern. Ich lächle. Manchmal stolpern auch Schmetterlinge über ihre Erinnerungen.

One more Story: