Die Geschichte von der Oma Teil 3

Als die Oma starb, war ich bereits ein Mann. Ich war 48. Sie war 95. Aber an ihrem Sterbebett im Spital hockte wieder der kleine Junge von früher. Wenn ich mich als Kind in Not fühlte, wünschte ich mir einen Riesen an meine Seite, der mich rettete.

Verzweifelt rief ich nach einem Arzt. Im Krankenhaus wachsen die Ärzte zu Riesen hoch. Denn es ist der Ort, an dem man sich manchmal am hilflosesten dem Schicksal ausgeliefert fühlt. Als er endlich durch die Tür trat, schöpfte der kleine Junge in mir ein letztes Mal Hoffnung. Er musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Der Schatten, den er warf, erstreckte sich durch das ganze Zimmer. Selbst der Tod würde es nicht wagen, sich einem solchen Koloss entgegen zu stellen.

Aber mit jedem Schritt, den er näher kam, büßte er an Größe ein. Seine Schultern wurden schmäler, seine Muskeln dünner und seine Beine kürzer. Bevor die Hälfte der Strecke hinter ihm lag, hatte er nur noch die Größe eines Kindes. Gleichzeitig dehnte sich das Krankenzimmer zu einem riesigen Saal. Das Bett, in dem die Seele meiner Oma ihre Flügel ausbreitete, verlor sich als winziger Punkt am Horizont. Aus wenigen Schritten wurde eine lange Reise. Als der Riese das Bett meiner Oma erreichte, war er zu einem Zwerg geschrumpft. Er kam zu spät, um die Oma für den kleinen Jungen in mir zu retten. Sie hatte sich in eine leere Hülle verwandelt.

Nach ihrem Tod war die Welt für mich ein einsamer Ort. Jede Tür führte in einen verlassenen Raum. Jeder Blick endete an einem verwaisten Platz. Die Leere breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Sie lachte aus den gerahmten Fotografien an den Wänden. Sie kauerte auf dem Stuhl in der Küche. Sie winkte aus dem Ledersessel im Wohnzimmer. Sie verfing sich an den Kleidern in den Schränken. Sie wühlte sich durch die Wäsche in den Schubladen. Sie schlief in den kalten Bettlaken. Aus allen Dingen strömte die gleiche Traurigkeit. Als wüssten sie um die Vorbereitungen für ihre letzte Zusammenkunft, bevor ein ungewisses Schicksal sie in alle Winde zerstreute.

In der Nacht vor dem Begräbnis träumte ich von einem riesigen Ozean, der an der tiefsten Stelle leck geschlagen war. Auf seiner Oberfläche entstand ein gewaltiger Wirbel, der alles ins Verderben stürzte, das in seinen Sog geriet. Obenauf tanzten die Wellen ein letztes Mal mit dem Wind, bevor sie in einen bodenlosen Abgrund hinabstürzten. Nach ihnen verschwanden die Schiffe mit ihren Netzen und allen Fischen darin. Eine weiße Gischt kämpfte bis zuletzt. Mit der Anmut einer traurigen Tänzerin warf sie sich dem Himmel entgegen. Noch in der Luft zerplatzte sie in abertausende Tropfen. Dann riss auch sie der Sog mit in die Tiefe.

An dieser Stelle schreckte ich aus dem Schlaf. Im Raum herrschte eine gespenstische Ruhe, als würde kein Herz mehr auf der Erde schlagen. Dabei war nur ein einziges verstummt. Mit der Zunge leckte ich das kleine Rinnsal fort, das mich auf der Lippe kitzelte. Es schmeckte salzig, wie der letzte Tropfen eines verschwundenen Ozeans.