Leichtsinn

Eines Tages machte der Bär dem Drachen bei einem gemeinsamen Abendessen ein überraschendes Geständnis.
„Ich beginne über etwas nachzudenken.“,  verkündete er geheimniskrämerisch.
Der Drache blickte ihn von der Seite an.  Er gab sich keine Mühe, das Erstaunen in seinem Gesicht zu verbergen.
„Über was?“
Der Drache stellte die Frage nicht aus Neugier.  Es war ein reiner Akt der Höflichkeit. 
Bären waren für vieles gut.  Sie hatten Muskeln aus Stahl. Sie hatten ein dickes Fell.  Sie führten eine große Schnauze.  Aber keinesfalls saß auf ihrem Hals ein Kopf zum Nachdenken.
Die Antwort des Bären ließ ihn daher aus allen Wolken fallen.
„Ich denke über ein Leben mit dir nach.“
Die Mundwinkeln des Drachen stürzten steil nach unten und wölbten sich zu einem riesigen Hügel auf. Auf seiner Stirn bildeten sich dicke Falten.
„Da solltest du lieber nicht tun.“, sagte er.
Der Ton in seiner Stimme verriet das Unbehagen, das ihm der unerwartete Vorschlag des Bären bereitete.
„Die Gesellschaft von mir ist kein Honigschlecken.“
Der Bär reagierte auf den angekündigten Verlust seiner Lieblingsspeise anders als erwartet.
„Ja.“, lautete seine Antwort.
„Du müsstest deine dunkle Höhle gegen ein Haus mit hellen Fenstern tauschen.“
Wieder stimmte der Bär ohne Widerrede zu.
Es schien ihn wenig zu kümmern, dass die vielen Fenster  mit der sonnigen  Terrasse im Haus des Drachen seinem monatelangen Winterschlaf unverträglich waren.
„Dein Fell müsste geschoren werden, um nicht ständig in Flammen aufzugehen.“
Auch die Gefahr, von einer Stichflamme aus dem Mund des Drachen in Schutt und Asche gelegt zu werden,  konnte den Bären  nicht zur Vernunft bringen.
Abermals quittierte er die unverhohlene Drohung mit einem knappen Ja.
Die Hartnäckigkeit des Bären brachte den Drachen völlig aus der Fassung.
Seine Gesichtsfarbe färbte sich dunkelrot.  Seine Fingernägel hämmerten ungeduldig gegen die Tischplatte. Aus seinem Mund züngelte eine dicke Rauchwolke.
Obwohl er alle Anstrengungen unternahm,  das Zusammenleben mit ihm in den düstersten Farben zu schildern, blieb der Bär bei seinem Vorhaben.
Am Ende gab der Drache entnervt auf.  Er trank sein Glas auf dem Tisch mit einem riesigen Schluck leer aus und drängte zum Aufbruch. 
Das Angebot des Bären hatte ihm den Spaß  an dem Abend  verdorben.  Seine schlechte Laune war deutlich in seinem Gesicht abzulesen.
„Ich vermisse die Leichtigkeit zwischen uns.“,  knurrte er.
Der Bär blickte ihn mit großen Augen an.
„Was ist falsch daran, mit einem Drachen zu leben.“, fragte er.
„Bären und Drachen leben nicht zusammen.“, brummte der Drache zurück.
„Das weiß ich.“, antwortete der Bär.
„Ich  kann auch  nichts versprechen.  Ich kann nichts verlangen.  Aber ich kann alles geben.“
„Das reicht nicht.“, wehrte der Drache ab.
Seine Stimme klang nicht mehr so entschieden wie vorher.
„Ich vermisse jetzt auch etwas.“, hielt ihm der Bär dagegen.
„Was?“, fragte der Drache.
„Den Leichtsinn, es zu versuchen.“, antwortete der Bär.

ENDE.