ONLINE Meeting 1

Die Abläufe vieler ONLINE Meetings, die sich dieser Tage wie eine Pandemie in der Pandemie ausbreiten, erinnern mich an eine Geschichte, die mir mein Großvater erzählt hatte. Sie erzählt von einer Begebenheit die sich während des napoleonischen Feldzuges in Russland abspielte.

Einer unser Vorfahren hatte auf bayerische Seite in diesem Krieg mitgekämpft. Seither wird diese Geschichte von Generation zu Generation weiter erzählt. Sie dient als Mahnung für jene, die glauben, dass die Wahrheit stets ein willkommener Gast ist.

Der große französische Feldherr hatte es geschafft, Moskau abzufackeln. Aber am Ende machte sich die Brandstiftung für ihn wenig bezahlt. Der russische Bär zeigte sein dickes Fell und schlug den Franzosen samt seinem Heer in die Flucht.

Auf dem Rückzug beschloss ein Franzosengeneral, der seinem rückweichenden Heer vorauseilte, in einem Dorf sein Nachtlager aufzuschlagen. Eilig wurde das beste Haus für den ungebetenen Besuch beschlagnahmt.

Während seine Truppen mit abgefrorenen Gliedmaßen der russischen Übermacht hilflos ausgeliefert blieben, saß der General mit seiner Entourage in wohliger Wärme beim Abendessen.

Als er seine Suppe aus feinstem französischem Porzellan löffelte, begehrte ein gemeiner Soldat Einlass. Erstaunt blickte der General auf die zerlumpte Kreatur, die sich an seinen Tisch heran wagte. Die Uniform des Soldaten war zu Fetzen zerrissen. Als Schutz vor der Kälte trug er einen aus Kartoffelsäcken zurecht geschnittenen Umhang.

“Mon General,” stammelte der Soldat

“Die Russen überrennen unsere Linien. Ihre Gewehre schießen bei eisiger Kälte, während unsere Waffen versagen. Sie tragen warme Pelze, während wir in dünnen Mänteln erfrieren.“

Der General stand wortlos auf und ging ans Fenster. Minutenlang blickte er in die Finsternis hinaus, hinter der sich die endlose russische Steppe verbarg.

“Der Mann muss sich täuschen.“, wandte er sich an den Soldaten.

“Ich höre kein Schießen. Ich sehe keine russische Armee . Und die französische Uniform ist warm genug für den Kampf.“

Dabei zog er seinen Generalsrock zurecht, als wollte er verdeutlichen, dass er mit gutem Beispiel vorausging.

Der Soldat nahm seinen ganzen Mut zusammen, als er den Mund aufmachte.

“Mon General.“, sagte er.

“Sie können das Schießen nicht hören, weil die Front weit entfernt ist. Sie können die Russen nicht sehen, weil es Nacht ist. Und Sie spüren die Kälte nicht, weil in diesem Zimmer ein Feuer brennt.“

Die Miene des Generals erstarrte. Ohne den Soldaten eines Blickes zu würdigen, wies er das Wachpersonal, dem der Urahne meines Großvaters angehörte, an, ihn nach draußen zu bringen. Noch in der gleichen Nacht wurde der Soldat wegen Fahnenflucht standrechtlich erschossen.

Als die russischen Truppen am Nachmittag des nächsten Tages das Dorf einnahmen, war der General mit seiner Begleitung bereits Hals über Kopf geflohen. Das französische Porzellan hatte er am Küchentisch zurück gelassen.

© Andreas Schwarz 2021-06-22