Häutung

Der Drache brachte den Bären mit dem Wagen nach Hause.  Es war Nacht.  Der Drache parkte in der Einfahrt.  Er ließ den Motor laufen.
Der Bär blieb im Wagen sitzen.
„Du bist hier zuhause.“,  forderte ihn der Drache zum Aussteigen auf.
Der Bär blickte den Drachen an.  Der Drache blickte zurück.  Ihre Köpfe bewegten sich aufeinander zu, bis sich die Lippen berührten.  Sie küssten sich.
Der Bär flüsterte dem Drachen etwas ins Ohr.   Der Drache drehte den Kopf zur Seite. 
„Drachen und Bären schlafen nicht miteinander.“,  sagte er.
Seine Miene wirkte genervt. 
Der Bär schwieg.  Er öffnete die  Tür und stieg aus dem Wagen. 
Der Drache verabschiedete ihn mit einem Lächeln.
An der Haustür drehte sich der Bär noch einmal um und sah den Rücklichtern  des wegfahrenden Wagens  hinterher. Dann steckte er den Schlüssel in das Schloss.
Nach der Dusche  stellte sich der Bär  vor den Badezimmerspiegel und betrachtete sich.
Seit Jahren hatte er das nicht mehr  getan.  Er mochte es nicht, sich selbst anzusehen. 
An diesem Tag blieb ihm keine andere Wahl.  Er wollte endlich eine Antwort  auf seine Frage zu finden.
Was machte ihn zum Bären?
Aufmerksam musterte er die  tropfnasse  Gestalt, die ihm aus dem Spiegel entgegen blickte.
Der Bär hatte einen Bauch. Aber es war nicht der Bauch, der ihn zum Bären machte.   Bäuche war nichts Ungewöhnliches.
Der Blick des Bären  ging tiefer.   Es lag auch  nicht am Geschlecht.
Der Bär suchte weiter.
War es die Hautfarbe?  Wieder Fehlanzeige.
Der Bär dachte alle verbleibenden  Möglichkeiten durch.
Sie sprachen die gleiche Sprache.  Sie besaßen die gleichen Reisepässe.  Sie glaubten an den gleichen Gott.
Der Bär rückte mit dem Gesicht nahe an den Spiegel.  Was er darin fand,  gefiel ihm nicht.  Mit den in der Haut eingekerbten Falten erinnerte es an eine Straßenkarte.
War es am Ende das Alter, das ihn zum Bären machte?  
Während der Bär  darüber nachdachte,  funkelte ihn ein Metallstück an seiner rechten Hand an.
Verwundert betrachtete er den Ring, der  seit vielen Jahren auf seinem Finger steckte.
Warum war ihm der Gedanke nicht sofort gekommen?
Bei der ersten Begegnung hatte der Drache seine Hand genommen und an dem Ring  gedreht und den Bären in ihm erkannt.
Es war die  Stelle, an  der ihm das Fell aus der Haut wuchs, das ihn zum Bären machte.
In der gleichen Sekunde, in der den Ring bemerkte,  entschied der Bär, kein Bär mehr sein zu wollen.
Nachdem er sich mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, begann er sich zu häuten.
Es tat weh, das Bärenfell abzustreifen.  Es war ihm über die Jahre angewachsen.
Der Bär blutete, als er den Ring vom Finger zog.  Aber im Spiegel war kein Blut zu sehen.  Er blutete nach innen. Als er das Badezimmer verließ, ´ließ er  sein Bärenfell dort zurück.  Es war nicht schwer.  Es passte in eine winzige Lade.  Es war ein kaltes Stück Metall.