Der Bär kannte den Drachen bereits seit Monaten. Aber seiner anfänglichen Freude über die Begegnung mit ihm folgte bald eine unerwartete Ernüchterung. Denn als Bär hatte er keine Ahnung, wie man einen Drachen erobert. Die ersten Anläufe, die er unternahm, waren allesamt zum Scheitern verurteilt.
In einem Park versuchte er, den Arm um die Schulter des Drachen zu legen.
Der Drache wies ihn mit strengem Blick zurecht.
„Das tun Bären und Drachen nicht.“
In einer sternenklaren Nacht griff der Bär nach der Hand des Drachen. Das daraus entstehende Gerangel endete für ihn mit einer blutigen Nase, als er mit der Schnauze gegen einen Laternenmasten prallte.
Bei einem Stadtbummel wagte er es, vor einem Schaufenster die Arme um die Hüften des Drachen zu legen.
„Sind wir nicht ein hübsches Paar.“ verwies er auf das Bild, das sich in der Auslage spiegelte.
„Die Leute drehen schon die Hälse nach uns.“, entsetzte sich der Drache und entwand sich aus der Umarmung des Bären.
In dieser Tonart setzte sich die Reihe der Demütigungen fort.
Der Versuch, den Drachen auf die Wange zu küssen, wurde als Überschreitung der rote Linie ausgelegt. Ein gewagter Angriff mit den Füßen unter einem Tisch, endete gar mit einem heftigen Tritt gegen sein Schienbein.
Mehrmals stand der Bär am Rand einer völligen Niederlage.
Als er in seiner Verzweiflung den offenen Verhandlungsweg einschlug und dem Drachen den Vorschlag unterbreitete, mit ihm eine Nacht zu verbringen, erntete er eine schallende Ohrfeige.
Erst der allerletzte Sturmlauf brachte scheinbar die entscheidende Wende. Eine laue Sommernacht und eine Parkbank bildeten den Rahmen für das Schlachtfeld, welches das Kriegsglück zu seinen Gunsten wenden sollte.
Zwei Flaschen Wein und Gläser, die er in einem Rucksack eingepackt hatte, verhalfen ihm zu einem strategischen Vorteil.
Der Anfang verlief wie üblich wenig vielversprechend. Der Bär ritt eine Attacke. Der Drache wehrte den Angriff mit gewohnter Routine ab.
Aber dieses Mal war etwas anders als sonst.
Niemals zuvor hatte der Bär mehr geredet. Niemals hatte seine Stimme zu einem ehrlicheren Klang gefunden.
Nach einigen Gläsern tat sich in der Abwehr des Drachen plötzlich eine kleine Lücke auf. Der Bär nutzte die unerwartete Schwäche und griff von der Flanke an. Die Überraschung glückte. Der Drache zeigte sich überrumpelt.
Bereits nach dem ersten Scharmützel fiel seine Hand der Pranke des Bären zum Opfer.
Die erfolgreiche Beute ermunterte den Angreifer.
Bevor er zu einem neuerlichen Vormarsch startete, füllte der Bär die Gläser auf. Zusätzlich verstärkte er seine Angriffsformation mit der zweiten Flasche Wein.
Mit drückender Überlegenheit rückte er dem Drachen auf Tuchfühlung näher.
Überraschenderweise blieb die erwartete Gegenwehr aus.
Beinahe ohne Verluste gelang es dem Bären, den Arm um die Schultern des Drache zu legen.
Langsam gelangte er an sein eigentliches Ziel. Sein Mund näherte sich bis auf wenige Zentimeter an die Lippen des Drachen heran. Die Nasenspitzen berührten sich.
Der Bär hielt den Atem an. Noch fürchtete er, in einen Hinterhalt zu geraten. Aber nichts passierte.
„Ich werde dich küssen.“, erläuterte der Bär offen seine Kriegspläne.
„Warum sollten wir das tun?“, antwortete der Drache.
Eigenartigerweise unternahm er nichts, um den Angreifer von seiner Sturmleiter zu stoßen.
Der Drache wankte. Beinahe ohne Gegenwehr trank der Bär die Blicke von seinen Augen und atmete den Geruch aus seiner Haut.
Als seine Lippen das Lächeln des Drachen berührten, zweifelte er nicht mehr am Sieg.
Der Drache stürzte.
Mit einem kurzen Satz fügte er sich in seine Niederlage.
„Ich falle.“, hauchte er dem Bären ins Ohr, als dieser begann, ihn aus seiner schuppigen Drachenhaut zu schälen.
„Du fällst in meine Hand.“, tröstete der Bär den Drachen und drang mit seinen Fingern vorsichtig in das sanfthäutige Land vor, das sich ihm öffnete.
Wie genoss er seinen Triumph. Wie glaubte er an seinen Sieg.
Er hatte einen Drachen erobert. Und ein ganzes Land für sich gewonnen.
Die Wahrheit erkannte er erst am nächsten Morgen, als sein erster Gedanke dem Drachen gehörte.
Er hatte nichts erobert. Er hatte nichts gewonnen. Viel zu leicht hatte er mit seinen Sturmleitern die Mauern überwunden. Viel zu schnell hatte er das Land überrannt.
Es war genau umgekehrt. Der Drache hatte ihm den Sieg geschenkt, um ihn zu seinem Gefangenen zu machen.
„Ich habe eine Nacht gewonnen und mein ganzes Leben an ihn verloren.“, seufzte der Bär in sich hinein.
Das Echo des Satzes hallte bis in die dunkelsten Winkel seiner Seele hinein.Denn nach dem Aufeinandertreffen auf der Parkbank konnte er sich ein Leben ohne den Drachen nicht mehr vorstellen.
ENDE.