Mit Fortdauer der Freundschaft wuchs die Bewunderung des Bären für den Drachen. An ihm prallte das Geschwätz der Leute, das sie umschwirrte, wie an einem Panzer ab. Ihre Nähe war ein gefundenes Fressen für die Lästerer und Schwätzer. Bären und Drachen waren in ihren Augen wie Feuer und Wasser. Sie passten nicht zueinander. Wer gegen diese Regel verstieß, wurde gnadenlos von ihrem Spott verfolgt. Unter dem dicken Fell des Bären versteckte sich eine dünne Haut. Das Getuschel der Menschen bohrte sich wie Nadelstiche bis zu seiner Seele durch.
„Ich wäre ohne ihn besser dran.“, hämmerte es in seinem Kopf.
An mehreren Kreuzungen versuchte der Bär, den Drachen alleine ziehen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn er stehen blieb, kehrte der Drache um und zog ihn an der Hand mit sich fort.
„Das Feuer in mir reicht für uns beide.“, sagte er.
„Ich wünschte, ich hätte Deine Drachenhaut.“, erwiderte der Bär.
„Das solltest Du Dir lieber nicht wünschen.“, sagte der Drache. Der Andeutung folgte ein tagelanges Schweigen.
Eines Abends tranken sie gemeinsam Wein. Und die Zahl der Gläser löste die Zunge des Drachen.
„Ich war nicht immer ein Drache. Ich war einmal etwas anderes.“, weihte der Drache den Bären in seine dunkle Seite ein.
„Was bist du gewesen?“, fragte der Bär.
„Ich weiß es nicht mehr. Der Tag, an dem ich in Drachenblut gebadet wurde, hat mir die Erinnerung daran genommen.“, antwortete der Drache.
Fassungslos lauschte der Bär den Schilderungen des Drachen. Es war eine Geschichte, die jede Freude und jedes Lachen im Keim erstickte.
Sie führte zu den tiefsten Stellen seiner Seele hinunter. Immer wenn der Bär glaubte, einen Boden gefunden zu haben, öffnete sich eine neue Tür, hinter der eine Treppe zum Vorschein kam, die weiter in die Tiefe führte.
„Eines Nachts fielen die Sterne vom Himmel.“, schilderte der Drache die Ereignisse, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war.
„Sie stürzten ohne Vorwarnung auf unsere Häuser und Wohnungen. Wir schliefen in unseren Betten, als sie durch unsere Dächer schlugen. Es waren Abertausende. Und jeder Stern tötete einen von uns. Der Spuk endete so abrupt wie er begonnen hatte. Einige Minuten später war alles vorüber, und die meisten von uns lagen tot unter den Trümmern ihrer Häuser begraben.
Wenige blieben wie durch ein Wunder verschont. Weil ein Stern Mitleid hatte. Weil wir zu viele waren. Oder weil nicht genug Sterne vom Himmel fielen.
Diejenigen von uns, die lebend aus ihren Betten stiegen, mussten in einem Meer aus Blut baden, das unsere Haut zu einem dicken Panzer verklebte. An diesem Tag sind wir alle zu Drachen geworden.“
Der Bär hörte schweigend zu. Es gab nichts zu sagen. Es gab nur die beinahe unerträgliche Stille zwischen jedem Wort.
Mit glasigen Augen starrte er zum Himmel hoch, wo abertausende Sterne friedlich am Firmament strahlten, als könnten sie keiner Seele etwas zuleide tun. Aber der Bär hatte nicht den geringsten Zweifel daran, zu welcher Grausamkeit sie imstande gewesen waren.
„Die meisten aus meiner Familie starben in dieser Nacht.“, sagte der Drache.
„Die Sterne haben einen Drachen aus mir gemacht. Bis auf eine Winzigkeit.
Der Bär fragte nicht danach. Er ahnte, welche Stelle es war.
„Die Trauer hat mein Herz weich gemacht.“, bestätigte der Drache seinen Verdacht.
„Seither ist mein zweiter Vorname Sanftmut.“
Der Drache wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Mein blödes Herz verhindert, dass ich mich an den Sternen rächen will.“, zog er die bittere Lehre daraus.
„Vielleicht ist es besser so.“, sagte der Bär.
„Man muss ein Herz besitzen , um Liebe und Frieden zu finden.“
„Es braucht zwei Herzen dafür.“, erwiderte der Drache.
„Und ich habe das andere noch nicht gefunden.“
Irgendetwas sagte dem Bären, dass es der richtige Zeitpunkt war. Vor den Augen des überraschten Drachen riss er sein Bärenfell auf der Brust mitten entzwei. Darunter kam das blutende Herz eines Bären zum Vorschein.
Zögernd folgte der Drache seinem Beispiel. Mit den Händen schob er die gepanzerten Schuppen zur Seite, bis sein Herz frei lag.
Der Bär traute seinen Augen nicht.
Der Drache hatte ihm die Wahrheit gesagt. Er war nicht immer ein Drache gewesen.
Unter seiner stählernen Haut schlug das Herz eines Schmetterlings. Und seine Schönheit überstrahlte alles, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte.