Die Geschichte von der Zuversicht

Es gibt drei verschiedene Arten von Geschichten. Geschichten, die passieren oder schon passiert sind. Geschichten, die wahrscheinlich sind oder zumindest wahrscheinlich sein könnten. Und Geschichten, die so unglaublich klingen, dass sie niemand für möglich hält.

Die Geschichte, von der hier berichtet wird, gehörte bis vor wenigen Monaten zu den Letztgenannten. Aber über Nacht wurde daraus eine Geschichte, die vor aller Augen passierte und die ganze Welt aus den Angeln hob.

Es begann mit Nachrichten, die nichts Gutes verlauteten. Aus allen Fernsehkanälen dröhnten in jenen Tagen die gleichen Botschaften. Kanonen und Bomben und luden  ihre tödliche Fracht über die Städte und Dörfer ab und zerstörten die Häuser und Wohnungen der Menschen.
Auf den Straßen fuhren keine Autos. Die Fabriken und Geschäfte blieben geschlossen. In den Schulen und Kindergärten war das Stimmengewirr verstummt. Die Tische in den Cafés und Gaststuben warteten vergeblich auf Gäste.


Die Welt wirkte leerer und stiller als vorher. Die Menschen hatten aufgehört, zu lachen. Sie umarmten und küssten sich nicht mehr. Sie zogen graue Uniformen an und trugen Waffen in den Händen. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, duckten sie die Köpfe in ihre Helme und starrten sich feindselig an.
Die ganze Welt war in den Bann eines todbringenden Schreckens geraten.


Einzig die Tiere schienen sich von den Ereignissen nicht beeindrucken zu lassen. Sie lebten unbekümmert in den Tag, wie sie es seit ewigen Zeiten taten.
Bei einem Blick aus dem Fenster bemerkte ein kleines Mädchen zwei Schmetterlinge im Garten, die aufgeregt von einer Blüte zur nächsten flatterten. Das ausgelassene Treiben der bunten Falter stellte das Mädchen vor ein Rätsel.

“Warum fürchten sich die Schmetterlinge nicht vor dem Krieg?“, fragte sie ihre Mutter.


Ihre eigene Angst wurde mit jedem Tag größer, an dem sie vor dem Bombenhagel, der aus dem Himmel fiel, in den Keller flüchten musste. Es war eine Angst, die nicht aufhören wollte zu wachsen, weil auch der Kanonendonner mit jedem Tag mächtiger wurde.
Die Mutter strich ihrer Tochter die Tränen aus den verheulten Wangen.


“Die Zuversicht der Tiere ist größer als ihre Angst.“, antwortete sie.


Das Mädchen geriet ins Grübeln. Die Tiere waren ihrem Schicksal wehrlos ausgeliefert. Sie kannten weder Krankenhäuser noch Supermärkte. Sie hatten keine Kindergärten und Schulen. Sie besaßen nur, was sie am Leib trugen. Trotzdem flogen die Schmetterlinge im Garten jeden Morgen unbekümmert zum Himmel hoch. Die Fische im nahen Fluss folgten der Strömung, ohne sich davor zu fürchten, in einem Netz zu enden. Und die Mäuse in der Gartenhütte verschwendeten keinen Gedanken an den unbarmherzigen Jäger, der ihnen im Nacken saß. Sie vertrauten dem nächsten Augenblick. Und ihre Zuversicht gab ihnen recht.


Nicht jeder Schmetterling hauchte sein Leben im Schnabel eines Vogels aus. Nicht alle Fische wurden mit Netzen aus dem Wasser gezogen. Und die meisten Mäuse entkamen dem Hunger der Katzen.


Das Mädchen lächelte. Die Angst in ihrem Kopf war wie weggeblasen. Wenn sich die Tiere vor ihrer Zukunft nicht fürchteten, musste sie es auch nicht tun. Eine nie gefühlte Gewissheit durchströmte sie und malte das Leben in den schönsten Farben.


Als sie ihre Arme ausbreitete, verwandelten sie sich in die Flügel eines Schmetterlings, der federleicht in der Luft tanzte. Ihre Beine zuckten wie die Schwanzflossen eines Fisches, der durch die Wellen tauchte. Und ihrer Brust schlug das tapfere Herz einer Maus, die furchtlos ihrem Jäger einen Haken schlug.

ENDE.