Die Geschichte von der Zuversicht

Die Geschichte begann mit Nachrichten, die nichts Gutes verlauteten. Ein Virus verteilte seine tödliche Fracht in den Städten und Dörfern und zwang die Menschen in ihren Häusern und Wohnungen zu bleiben.

Auf den Straßen fuhren keine Autos. Die Fabriken und Geschäfte blieben geschlossen. In den Schulen und Kindergärten war das Stimmengewirr verstummt. Die Tische in den Cafes und Gaststuben warteten vergeblich auf Gäste.

Die Welt wirkte leerer und stiller als vorher. Die Menschen hatten aufgehört, sich zu umarmen und zu küssen. Sie trugen Masken vor ihren Gesichtern und waren um Abstand bemüht. Wenn sie einander begegneten, duckten sie die Köpfe in die Krägen ihrer Mäntel oder wechselten die Straßenseite.

Die ganze Welt war in den Bann eines unsichtbaren Schreckens geraten. Einzig die Tiere schienen sich von den Ereignissen nicht beeindrucken zu lassen. Sie lebten unbekümmert in den Tag, wie sie es seit ewigen Zeiten taten.

Bei einem Blick aus dem Fenster bemerkte ein kleines Mädchen zwei Schmetterlinge im Garten, die aufgeregt von einer Blüte zur nächsten flatterten. Das ausgelassene Treiben der bunten Falter stellte das Mädchen vor ein Rätsel.

“Warum fürchten sich die Schmetterlinge nicht?“, fragte sie ihre Mutter.

Ihre eigene Angst wurde mit jedem Tag größer, an dem sie ihre Großmutter nicht besuchen durfte und es verboten war, sich gegenseitig in die Arme zu nehmen. Es war eine Angst, die nicht aufhören wollte zu wachsen, weil auch das Virus mit jedem Tag mächtiger wurde.

“Die Zuversicht der Tiere ist größer als ihre Angst.“, antwortete die Mutter.

Das Mädchen geriet ins Grübeln. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Die Tiere waren ihrem Schicksal wehrlos ausgeliefert. Sie kannten weder Krankenhäuser noch Supermärkte. Sie hatten keine Kindergärten und Schulen. Sie besaßen nur, was sie am Leib trugen.

Trotzdem flogen die Schmetterlinge im Garten jeden Morgen unbekümmert zum Himmel hoch. Die Fische im nahen Fluss folgten der Strömung, ohne sich davor zu fürchten, in einem Netz zu enden. Und die Mäuse in der Gartenhütte verschwendeten keinen Gedanken an den Jäger, der ihnen im Nacken saß. Sie vertrauten dem nächsten Augenblick. Und ihre Zuversicht gab ihnen recht.

Nicht jeder Schmetterling hauchte sein Leben im Schnabel eines Vogels aus. Nicht alle Fische wurden mit Netzen aus dem Wasser gezogen. Und die meisten Mäuse entkamen dem Hunger der Katzen.

Das Mädchen lächelte. Die Angst in ihrem Kopf war wie weggeblasen. Wenn sich die Tiere vor ihrer Zukunft nicht fürchteten, musste sie es auch nicht tun. Eine nie gefühlte Gewissheit durchströmte sie und malte das Leben in den schönsten Farben.

Als sie ihre Arme ausbreitete, verwandelten sie sich in die Flügel eines Schmetterlings, der federleicht in der Luft tanzte. Ihre Beine zuckten wie die Schwanzflossen eines Fisches, der durch die Wellen tauchte. Und ihrer Brust hörte sie das tapfere Herz einer Maus schlagen, die jeder Katze einen Haken schlug.

© Andreas Schwarz 2020-12-02