

Ein Gedanke geisterte seit Tagen durch den Kopf des Fräuleins „So-La-La“.
Wie konnte man an einem Leben Gefallen finden, wenn man immer in Sorge blieb, das Richtige zu tun?
Es strengte sie an, ständig Entscheidungen treffen zu müssen. Von morgens bis abends hatte sie an tausend Dinge zu denken.
Die Bilder, die täglich über die Fernsehschirme flimmerten, taten ein Übriges, an der Schönheit des Lebens zu zweifeln.
Welche Freude versprach eine Welt, in der unheilstiftende K’s ihr Unwesen trieben? Ihre Schreckensherrschaft nahm viele Gestalten an. Krankheiten, die ohne Vorwarnung über ihre wehrlosen Opfer her fielen. Kriege, die Städte und Länder verwüsteten. Katastrophen, die Menschen zu tausenden ins Verderben rissen.
Je verzweifelter das Fräulein „So-La-La“ nach einer Antwort auf ihre Frage suchte, desto mehr fühlte sich ihr Kopf an wie ein Luftballon, in dem jemand zu viel Luft gepumpt hatte.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
„Was macht das Leben schön?“, platzte die Frage mit einem lauten Knall aus ihrem Mund.
Der Krach rief die Großmutter herbei. Sie war länger auf der Welt als die meisten Menschen. Denn niemand konnte sich an eine Zeit ohne sie erinnern.
Mit seinen unzähligen Falten erinnerte ihr Gesicht an einen verschrumpelten Apfel, der vor langer Zeit vom Baum gefallen war.
„Die Menschen haben schon oft versucht, eine Formel für ein schönes Leben zu finden.“ sagte sie.
„Aber am Ende führten sie alle Berechnungen zum gleichen Ergebnis.“
Das Faltenmeer im Gesicht der Großmutter zog sich zu einem Lächeln auseinander.
„Die Schönheit des Lebens besteht darin, es nicht in Frage zu stellen.“
Das Fräulein „So-La-La“ spürte ein Zucken in ihrem Zeigefinger. Sie hatte gute Lust, ihn auszustrecken und sich damit gegen die Stirn zu tippen. Das tat sie immer, wenn sie überzeugt war, dass jemand nicht ganz richtig bei Verstand war.
Die Großmutter war mit einem gestreckten Zeigefinger wenig zu beeindrucken. Ungerührt setzte sie ihre Ausführungen fort.
„Niemand weiß, wohin dich das Leben führt und wie es eines Tages endet. Man wird oft enttäuscht. Und vieles bleibt unerfüllt. Aber jedes Leben, das du lebst, ist besser als alle deine ungelebten Leben.“
In den Augen des Fräuleins „So-La-La“ leuchteten zwei riesige Fragezeichen auf.


„Was ist ein ungelebtes Leben?“, stotterte es aus ihr heraus.
Die Großmutter sprach mit Bedacht, als würde in jedem Satz eine Geschichte mitschwingen, die sie mit eigenen Augen erfahren hatte.
„Einmal ist es das Leben, das du nicht wagst. Ein anderes Mal ist es das Leben, vor dem du dich versteckst. Und manchmal ist es das Leben, nach dem du dich sehnst.“
Das Fräulein „So-La-La“ musste an ihre Lieblingspuppe denken, mit der sie jede Nacht einschlief. In ihrer Brust schlug kein Herz. Und anstelle von Gedanken hatte sie Stroh im Kopf.
Im Spiel hatte sie schon viele Leben für sie erfunden. Dabei machte es keinen Unterschied, ob es sich zum Guten oder Schlechten wendete. Ob es langweilig oder bedeutend verlief. Am Ende des Spiels war sie wieder eine Puppe, die keinen Tag älter aussah. In ihrer Welt besaßen die K’s keine Macht. Denn nichts passierte wirklich. Alles blieb in Schwebe.
Das Fräulein „So-La-La“ tat sich schwer ihren Neid zu verbergen. Ihre Puppe hatte es besser als sie. Denn sie konnte unter tausenden Leben wählen.
Der gestreckte Zeigefinger befand sich bereits gefährlich nahe an der Stirn, als ihn ein scharfer Ton stoppte.
„Du irrst Dich.“, donnerte die Großmutter.
„Es gibt keine größere Strafe als ein ungelebtes Leben.“‚
„Warum?“, versuchte sich das Fräulein „So-La-La“ in einem Hauch von Widerstand, um von ihrem flüchtenden Zeigefinger abzulenken, der sich eilig in ihre Hosentasche zurück zog.
„Weil am Ende die Gewissheit fehlt.“
Die Zahnräder im Kopf des Fräuleins „So-La-La“ ratterten ins Leere.
„Welche Gewissheit?“ plapperte es aus ihr heraus.
„Die Gewissheit, welches Leben daraus geworden wäre.“
Die Antwort traf das Fräulein „So-La-La“ wie einen Boxer, der einen Kinnhaken einstecken musste. In ihrem Kopf regnete es Sterne.
Als sie sich wieder in der Lage fühlte, darüber nachzudenken, lag sie Nasenspitze an Nasenspitze mit ihrer Puppe im Bett.
Die Puppe war ihre beste Spielgefährtin. Sie hatte die ganze Welt bereist und große Heldentaten vollbracht. Aber kein einziges Leben hatte sie wirklich gelebt. Sie waren nichts weiter als leere Seifenblasen aus Worten und Bildern.


Mitleidig starrte das Fräulein „So-La-La“ ihre Puppe an.
Der Kinnhaken der Großmutter hatte sie an der richtigen Stelle getroffen.
Es genügte nicht, in die Ferne zu blicken, wenn man eine Sehnsucht in sich spürte. Man musste sich auf eigenen Füßen auf den Weg machen.
Die Ohren ihrer Puppe waren tiefer als die tiefsten Brunnen. Was man in sie hinein flüsterte, fand nie wieder ans Tageslicht zurück.
Was das Fräulein „So-La-La“ ihr in dieser Nacht anvertraute, war eine Sehnsucht, die alle Menschen gleich spürten. Es war der Traum von einem schönen Leben. Er unterschied sich nur in einem winzigen Punkt von den Wünschen der anderen.
„Ich will Gewissheit haben.“, hauchte sie der Puppe ins Ohr.
Die Puppe verzog keine Miene. Ihre Augen starrten teilnahmslos zur Decke hoch.
Aber als um Mitternacht der Mond durch das Fenster schaute, spiegelte sich ein nasser Fleck auf ihrer linken Wange.
ENDE.