
Der Jahreswechsel steht immer auch für Bilanz, Abschluss und Neubeginn. Diese Geschichte erzählt davon.
Weihnachten lag auf den Tag genau eine Woche zurück. In dieser Nacht lag das Fräulein “So-La-La” lange wach. Knapp vor Mitternacht fielen ihr die Augen zu.Im Schlaf fand sie sich an einer Kreuzung wieder. Am Himmel darüber funkelte ein endloser Sternenregen.
„Wo bin ich?“, fragte das Fräulein „So-La-La“ den Weg, der sie hierher geführt hatte.
„Es ist der letzte Ort unserer gemeinsamen Reise.“, antwortete der Weg.
„Hier trennen wir uns.“
Das Fräulein „So-La-La“ blickte den Weg traurig an.
„Werden wir uns einmal wiedersehen?“, fragte sie.
Der Weg nickte.
„Ja.“, sagte er.
„Aber anders als jetzt. Wenn wir einander wieder begegnen, werde ich für dich eine Erinnerung in Bildern und Briefen sein. Vom Leichten, das wir geteilt haben, wirst du nur noch ein fernes Lachen hören und vom Schweren keine Traurigkeit mehr empfinden.“
Das Fräulein “So-La-La” wandte sich in die Richtung um, aus der sie der Weg hierher geführt hatte. Vieles lag bereits im Nebel. Manches ragte nur noch schemenhaft heraus. Einiges war schon zur Gänze von ihm verschluckt.
Sie warf einen Blick auf den neuen Weg, der sie auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung mit offenen Armen erwartete. Nur zaghaft fasste sie Vertrauen zu ihm. Zu überschwänglich fiel ihr die Begrüßung aus. Viel zu laut war das Feuerwerk, das sich über seinem Kopf entzündete.Wohin führte sie dieser Weg, der bei der ersten Begegnung übermütig Raketen in den Himmel schoss?Aber ihr blieb keine Wahl. Der Abschied rückte mit jeder Minute näher.
Das Fräulein „So-La-La“ legte sich auf den Boden und umarmte den Weg, der ihr ein Jahr lang Halt gegeben hatte, ein letztes Mal. Als sie sich erhob, war sie von unzähligen Gesichtern umringt. Sie ging von einem zum anderen und sah allen lange in die Augen. Einige schickte sie fort.
„Ihr seid mir zu fremd geworden.“, sagte sie ihnen.
Die Gesichter blickten sie traurig an, bevor sie im Nebel versanken. Andere winkte sie näher zu sich heran.
„Ich will euch an meiner Seite haben.“, sagte sie und streckte ihnen die Hände entgegen.
Zuletzt fiel ihr Blick auf das eingerahmte Bild ihrer verstorbenen Großmutter.
„Ich vermisse dich.“, schluchzte das Fräulein „So-La-La“ mit Tränen in den Augen.
„Mein Herz ist bei Dir.“, flüsterte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr.
Damit endete der Traum.
Als das Fräulein „So-La-La“ am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war der Kalender in ein neues Jahr gesprungen. Ängstlich blickte sie auf das Bild der Großmutter an der Wand. Als sie die Hand auf ihre Brust legte, atmete sie erleichtert auf. Die Großmutter hatte ihr Versprechen gehalten. Ihr Herz war nicht verstummt. Laut und deutlich schlug es mitten in ihr.
Mit dieser Zuversicht sprang das Fräulein „So-La-La“ aus dem Bett. Der Boden unter den Füßen fühlte sich fest an, wie ein Weg, zu dem sie Vertrauen fassen konnte. Mutig wagte sie die ersten Schritte.
© Andreas Schwarz 2021-01-01