Der Tarzansprung

Ich werde geimpft. Endlich. Ich kann den Stich in den Arm kaum erwarten. Der Euphorie folgt die Ernüchterung. Die Impfstraße eignet sich wenig für einen zügigen Durchzugsverkehr. Der Rückstau schafft Raum für Zweifel. In der Warteschlange brodeln beängstigende Gerüchte auf. Lohnt es sich wirklich, auf den letzten Metern der Pandemie sein Leben zu riskieren?

Rückzugsgedanken machen sich breit. Vielleicht ist man besser beraten, sich auf den Mut der anderen zu verlassen.

Am Ende siegt die Vernunft. Oder die Tatsache, dass man durch die Supermärkte daran gewöhnt ist, eine Warteschlange bis zur Kassierin durchzustehen.

Das Ende der Menschenansammlung erweist sich als Abgabesstelle für ausgefüllte Formulare. Mein leeres Formular erhält keinen Pardon. Ich werde mit einem Kugelschreiber weggeschickt, um anzukreuzen, dass ich für die mit der Impfung verbundenen Risiken selbst die Verantwortung trage.

Der Fragebogen erinnert mich an einen leeren Lottoschein. Die Zweifel verstärken sich. Ich habe im Lotto noch nie gewonnen.

Beim zweiten Anlauf gelingt es mir, das ausgefüllte Formular abzugeben. Ich werde zur Impfung vorgelassen. Die Ärztin bittet mich, einen Arm freizumachen. Ich entscheide mich nach kurzer Bedenkzeit für den rechten Arm. Sein Verlust scheint mir als Linkshänder verkraftbarer.

Ich schließe die Augen, als die Ärztin mit der Nadel in meinen Oberarm sticht. Ich kann kein Blut sehen

Die Ärztin entsorgt die leere Spritze und leiert ihre Ansage herunter. Sportliche Betätigungen sind für zwei Tage gestrichen. Bei Kopfschmerzen empfiehlt sie, eine Schmerztablette zu nehmen.

Ich folge einem plötzlichen Impuls. Ob Sex auch unter die verbotenen Anstrengungen fällt, will ich von ihr wissen. Die Ärztin zieht die Augenbrauen hoch. Sie ringt sichtbar nach Fassung. Scheinbar hat ihr diese Frage noch niemand gestellt

Ich blicke mich unter den Wartenden um. Das Erstaunen der Ärztin verwundert mich wenig. Für die meisten Anwesenden scheint die Frage nur noch geringe Bedeutung zu haben. Ich habe plötzlich das Gefühl, in einer Tagesheimstätte für Senioren gelandet zu sein.

Die Ärztin hat ihre Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle. Ich möge das selbst entscheiden, teilt sie mir mit. Tarzansprünge von Kleiderkästen halte sie dennoch für unangebracht.

Ich bedanke mich für ihren Segen. Leider funktioniert er bloß in der Theorie. Ich bewohne mein Bett derzeit allein. Das Gleiche gilt auch für alle anderen Privilegien, welche die Impfung verheißt.

Als Geimpfter kann man bedenkenlos auf ein Bier gehen. Zumindest theoretisch. Die praktische Umsetzung scheitert auf ähnliche Weise wie der angedachte Tarzansprung vom Kleiderschrank. Nur mit dem Unterschied, dass man sich statt in einem leeren Bett vor geschlossenen Türen wieder findet.

Als ich darüber nachdenke, spüre ich plötzlich die Nebenwirkung der Impfung. Das Gefühl überkommt mich überfallsartig. Ob die Tablette auch gegen Einsamkeit hilft?

© Andreas Schwarz 2021-05-18