Der letzte Tropfen

Meine Großmutter hat mir in Kindheitstagen viele Geschichten erzählt. Die meisten von ihnen sind längst in Vergessenheit geraten. Aber eine Geschichte wird mich ein Leben lang begleiten. Dabei hat die Großmutter diese Geschichte gar nie erzählt. Dass sie sich aber zugetragen hat, wie ich sie in Erinnerung habe, gibt es nicht den geringsten Zweifel.

Als meine Großmutter starb, war ich noch ein kleiner Junge.

Nach ihrem Tod verwandelte sich die Welt für mich über Monate lang zu einem einsamen Ort. Jede Tür führte in einen verlassenen Raum. Jeder Blick endete an einem verwaisten Platz.

Die Leere breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Sie lachte aus den gerahmten Fotografien an den Wänden. Sie kauerte auf dem Stuhl in der Küche. Sie winkte aus dem Ledersessel im Wohnzimmer. Sie verfing sich an den Kleidern in den Schränken. Sie wühlte sich durch die Wäsche in den Schubladen. Sie schlief in den kalten Bettlaken.

Aus allen Dingen strömte die gleiche Traurigkeit. Als wüssten sie um die Vorbereitungen für ihre letzte Zusammenkunft, bevor ein ungewisses Schicksal sie in alle Winde zerstreute.

Am Abend nach dem Begräbnis der Großmutter träumte ich von einem riesigen Ozean, der an der tiefsten Stelle leck geschlagen war. Auf seiner Oberfläche entstand ein gewaltiger Wirbel, der alles ins Verderben stürzte, das in seinen Sog geriet.

Obenauf tanzten die Wellen ein letztes Mal mit dem Wind, bevor sie in einen bodenlosen Abgrund hinunter stürzten. Nach ihnen verschwanden die Schiffe mit ihren Netzen und allen Fischen darin.

Eine weiße Gischt kämpfte bis zuletzt. Mit der Anmut einer traurigen Tänzerin warf sie sich dem Himmel entgegen. Noch in der Luft zerplatzte sie in abertausende Tropfen. Dann riss auch sie der Sog mit in die Tiefe.

An dieser Stelle schreckte ich aus dem Schlaf.

Im Raum herrschte eine gespenstische Ruhe, als würde kein Herz mehr auf der Erde schlagen. Dabei war nur ein einziges verstummt.

Mit der Zunge leckte ich das kleine Rinnsal fort, das mich auf der Lippe kitzelte. Es schmeckte salzig, wie der letzte Tropfen eines verschwundenen Ozeans.

© Andreas Schwarz 2021-01-27