
Ich habe einen Freund, der mir fremd geworden ist. Er stand mir einmal näher als alle anderen. Über Jahre waren wir ein unzertrennliches Paar, das nicht genug kriegen konnte voneinander.
Wir liebten uns täglich. Wir genossen uns von allen Seiten. Wir taten es von vorne und von hinten. Wir liebkosten uns und umgarnten uns mit Schmeicheleien.
“Wie schön Du bist.”
“Wie weich und glatt fühlt sich Deine Haut an.”
“Wie makellos ist Deine Gestalt.”
Jede Trennung verursachte uns unerträglichen Schmerz. Um einander zu sehen, ließen wir keine Gelegenheit ungenutzt.
Unsere Liebe war so schamlos, dass wir vor aller Augen übereinander herfielen. Wir liebten uns in Schaufenstern. Wir schlichen uns in fremde Badezimmer. Wir frönten unserer Lust aufeinander in Umkleidekabinen und auf Friseurstühlen. Es gab keine Bühne, die unserer Liebe verboten war.
Das ist alles lange her. Heute steht es schlecht um uns. Wir ertragen uns mehr, als wir uns lieben. Wenn wir uns zufällig auf der Straße begegnen, schlagen wir die Augen nieder.
Eine Trennung kommt nicht in Betracht. Wir haben es versucht. Aber es ist unmöglich. Es gibt kein Entkommen für uns. Wir sind über die Jahre zu fest zusammen gewachsen.
Tagsüber achten wir darauf, dass sich unsere Wege nicht zu oft kreuzen. Nachts leisten wir uns noch manchmal Gesellschaft. Die Dunkelheit tröstet uns. Weil wir unsere Blicke nicht sehen müssen.
Aber jeder Morgen bringt neuen Streit.
Im Badezimmer beginnt der Ärger. Dort haust mein Freund mit sich allein. Von aller Welt verlassen, wartet er täglich ungeduldig auf mein Erscheinen.
Wenn ich sein Gesicht im Spiegel sehe, überfällt mich Mitleid mit ihm. Alles Strahlende an ihm ist abgefallen. Nur der verbitterte Kern ist ihm geblieben.
Die Begrüßung fällt eisig aus. Wenn er mich erblickt, höre ich seine Stimme höhnen.
“Wie hässlich bist du geworden.”
“Wie viele Falten trägst Du im Gesicht.”
“Wie viel Fett schleppst Du mit Dir herum.”
Es tut gut, ihm die Zahnbürste in den Mund zu stopfen. Das bringt ihn zum Schweigen. Ich wasche ihm das Gesicht. Ich rasiere ihn und kämme ihm die Haare. Ich mache ihn schöner, als er es verdient. Er lässt es geduldig mit sich geschehen.
Seine sorgenvolle Miene stimmt mich nachdenklich. Vielleicht ist seine Gehässigkeit nur gespielt. Vielleicht erträgt er nicht, zu wissen, dass ich ihn sehe, wie er mich sieht.
Beim Abschied lächelt er manchmal. Dann blitzt seine alte Seele durch. Das versöhnt mich mit ihm. Und ich lächle zurück.
Er ist immer noch mein Freund. Ich liebe ihn. Aber manchmal fällt es mir schwerer, als ich es haben will.
© Andreas Schwarz 2021-02-07