Luftschloss

Nachdem der Bär über eine gemeinsame Zukunft nachgedacht hatte, lag er dem Drachen damit bei jeder Gelegenheit in den Ohren. Sein Vorschlag erntete jedoch wenig Gegenliebe. 
Die Vorstellung mit einem Bären zusammen zu leben, ließ den Drachen  Feuer spucken.
„Wenn ein Bär nachdenkt,  führt das selten zu etwas Gutem.“, wies er das Ansinnen des Bären ruppig  zurück. 
Nach einigen  Wochen  begann sein Widerstand unerwartet zu bröckeln.
Vielleicht waren es die dunklen Kulleraugen des Bären, denen er nicht länger widerstehen konnte.   Vielleicht war es bloß dem Umstand zu verdanken, dass sein zweiter Vorname Sanftmut war, das ihn davor abhielt, den anhänglichen Bären auf Nimmerwiedersehen zu Asche zu verglühen.
Langsam schien sich der Drache  mit der Idee anfreunden zu können, sein Leben mit einem Bären teilen.
Er begann über seine Schlaf- und Essgewohnheiten zu sprechen. Der Bär gab sich als Morgenmuffel und Nachtgeist zu erkennen.  Der Drache outete sich als  Frühaufsteher und  Sofaschläfer. 
Die Badezimmerzeiten wurden festgelegt.  Der Küchendienst eingeteilt.  Selbst die Aufteilung der Schuh-  und  Kleiderschränke gelang. 
Eine Hürde blieb jedoch auf Dauer unüberwindbar. Sie konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Wohnsitz einigen.
„Ein Drache zieht nicht zu einem Bären.“, lehnte der Drache eine Übersiedelung in eine dunkle Höhle ab.
Der Bär zeigte sich nicht weniger wählerisch bei seiner zukünftigen Unterbringung.
„Ein Bär schläft nicht im Schlafzimmer eines Drachen.“, bestand er auf eine standesgemäße Behausung.
Am Ende schlossen sie einen Kompromiss.  Sie vereinbarten,  einen Neubau zu errichten, der sowohl den Bedürfnissen des Bären nach einer feuchten Höhle als der Vorliebe des Drachen für helle Räume mit vielen Fenstern entsprach.
Der Freude über diese Einigung folgte rasch  die Ernüchterung.  Es fand sich kein passendes Grundstück, auf dem sie  ihr Bauvorhaben verwirklichen konnten.   Das eine lag zu hoch am Berg.  Das andere zu tief im Tal.
Als sie bereits dachten, aufzugeben, stach dem  Drachen  eine vorbeiziehende Wolkenfront  ins Auge.   
„Es braucht kein Land für unser Haus.“,  rief er beim Anblick des dunstigen Gebildes aus, das an alle möglichen Formen erinnerte.
„Wir bauen uns ein Schloss in den Wolken.“
Der Bär blickte zum Himmel hoch. Nach kurzem Überlegen  stimmte er begeistert zu.
Der Himmel bot mehr Platz als irgendein anderer Ort auf der Welt.   Außerdem mussten sie  über den Wolken  keine argwöhnische Blicke fürchten, denen es missfiel, dass ein Bär sein Leben mit einem Drachen teilte. 
Nie glaubte er  sich dem Himmel näher als in diesem Augenblick.
All seine Träumen fühlten sich  zum Greifen nahe an.
Unverzüglich  begann der Bär  mit den Planungen.  Der Drache stellte mit einer dicken Rauchwolke  das erforderliche Baumaterial bereit.
Die Arbeiten dauerten nicht länger, als eine Zigarette lang und ein Glas Wein tief ist.  
Dann schwebte das Luftschloss fixfertig über ihnen in den Wolken. Es brauchte weder ein Fundament  noch  Steine und  Mörtel für die Mauern.   Ein bisschen Spucke des Bären  und eine Rauchwolke aus dem Mund des Drachen ließ es bis zum Himmel hochwachsen. 
Als sie gemeinsam die weitläufigen Gänge abschritten, staunten sie über die Geräumigkeit ihres neuen  Domizils.  Alle Zimmer waren eingerichtet wie es sich für einen Bären und einen Drachen geziemte.   Eine  dunkle Höhle mit einer offenen Dachluke für den Bären.   Lichtdurchflutete Räume mit riesigen Fenstern und einer Aussichtsterrasse für den Drachen. 
Es lebte sich herrlich darin. 
Der Bär und der Drache genossen einen langen Tag in ihrem Luftschloss.
Am Abend traten sie gemeinsam vor die Tür und blickten auf die Welt herab.
„Es ist der schönste Ort zwischen Himmel und Erde.“, seufzte der Bär und legte seinen Arm um die Schultern des Drachen.
Der Drache schmiegte seinen Kopf an das Fell des Bären.
„Das Schloss ist wie die Liebe zwischen uns.“,  flüsterte er ihm leise  ins Ohr.
„Sie  ist nicht wirklich und für den Augenblick trotzdem wunderschön.“
Der Bär sagte kein Wort.  Das Würgen in seinem Hals hinderte ihn daran. Er hatte verstanden, was der Drache meinte.
Der Regen, der in dieser Nacht aus den Wolken regnete, waren die Tränen eines Bären, der allein in einer dunklen Höhle schlief.

ENDE.